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Differentialdiagnose Dysphagie

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Bis zu 15 Prozent aller stationären Patienten leiden an Dysphagie. Ein unterschätztes Problem sind vor allem neurogene Dysphagien, wie Experten betonen. Steigende Prävalenz gibt es auch bei der eosinophilen Ösophagitis. Darüber hinaus können Schluckstörungen auch eine Nebenwirkung von Medikamenten sein – etwa von Neuroleptika und manchen Benzodiazepinen.

von Sophie Fessl

Schluckstörungen sollten jedenfalls ernst genommen werden, da sie „ein Alarmsymptom sind, hinter dem sich eine für den Patienten relevante und schwerwiegende Erkrankung verstecken kann“, betont Priv. Doz. Andreas Maieron von der Klinischen Abteilung für Innere Medizin 2 am Universitätsklinikum St. Pölten. Daher sollten Schluckbeschwerden zügig abgeklärt werden, so seine Forderung. „Schluckstörungen betreffen rund zehn bis 15 Prozent der Spitalspatienten und sind extrem vielfältig, sowohl in den Ursachen als auch in der Abklärung“, wie er betont. Generell gäbe es drei Bereiche, in die die Differentialdiagnosen der Dysphagie eingeteilt werden können: HNO, Gastroenterologie und Neurologie.

Univ. Prof. Doris-Maria Denk-Linnert von der Klinischen Abteilung für Phoniatrie-Logopädie an der Universitätsklinik für Hals‑, Nasen- und Ohrenkrankheiten der Medizinischen Universität Wien rät zu einer genauen Anamnese, wenn sich Patienten mit Problemen beim Schlucken präsentieren. „Zuerst sollte eingegrenzt werden, ob es sich um unspezifische Schluckbeschwerden, einem Globusgefühl – also eine Missempfindung beim Leerschlucken –, oder Schmerzen beim Schlucken, wie sie etwa im Rahmen einer Angina auftreten können, handelt oder ob es tatsächlich eine Störung der Aufnahme und des Transportes der Nahrung von der Mundhöhle in den Magen, also eine Dysphagie, ist.“

Nach der Charakterisierung und Eingrenzung der Beschwerden sollten Patienten mit einer Störung des Schluckaktes weiter an HNO-Spezialisten verwiesen werden, rät Denk-Linnert. Bei der Abklärung durch den Facharzt für Hals‑, Nasen‑, Ohrenheilkunde beziehungsweise in der Folge durch den Phoniater wird weiter eingegrenzt, ob es sich um eine Störung der oropharyngealen Phase handelt. Das zieht eine Betreuung eines Teams durch HNO-Spezialisten, Phoniater und Logopäden diagnostisch und therapeutisch nach sich. Andererseits kann festgestellt werden, ob eine Störung der ösophagealen Phase vorliegt, die von einem Gastroenterologen weiter abgeklärt und behandelt werden sollte, oder ob eine neurogene Schluckstörung vorliegt.

Schluckzentrierte Anamnese

Die Abklärung der Schluckstörungen durch den HNO-Facharzt/Phoniater beginnt mit einer schluckzentrierten Anamnese, erklärt Denk-Linnert. Dabei wird erfragt, seit wann die Schluckstörungen bestehen, wie sie sich entwickelt haben, wann sie auftreten, ob der Patient eigene Strategien zur Bewältigung entwickelt hat, welche Grunderkrankungen vorliegen, und ob in der Vergangenheit Behandlungen im HNO-Bereich wie Radiotherapien vorgenommen wurden. „Eine genaue Krankengeschichte inklusive Gewichtsverlust und das Auftreten von Lungenentzündungen oder chronischer Bronchitis gibt wichtige Hinweise, ob bereits Aspirationspneumonien aufgetreten sind und ob die orale Nahrungsaufnahme suffizient ist“, berichtet Denk-Linnert aus der Praxis.

Bei der HNO-ärztlichen/phoniatrischen Untersuchung werden die Beschaffenheit und Funktion des oberen Atem- und Schluckweges inklusive Beweglichkeit von Zunge und Lippen erhoben. Bei der klinischen Schluckuntersuchung werden Motorik und Sensibilität des Mund-/Rachenraumes geprüft, ob der Betreffende während oder nach dem Schlucken hustet und auch auf den Stimmklang geachtet. Husten während des Schluckens oder kurz nach dem Schlucken kann einen Hinweis auf eine Aspiration liefern. Andererseits bedeute aber das Fehlen von Husten nicht, dass keine Aspiration vorliegt, betont Denk-Linnert. „Eventuell hat der Patient keinen Hustenreflex mehr, die sogenannte stille Aspiration. Der Nachweis beziehungsweise Ausschluss einer Aspiration ist hier ein wichtiger Angelpunkt in der Diagnostik, der sehr genau beobachtet werden muss.“ Mit der flexiblen Fiberoptic Evaluation Of Swallowing (FEES) wird die Schluckfunktion beim Schlucken von Speichel und Nahrung in unterschiedlicher Konsistenz beobachtet.

Kausal behebbare organische Störungen wie ein Tumor oder ein Divertikel müssen kausal behandelt werden. „Bei nicht-kausal behandelbaren Schluckstörungen ist meist eine logopädische Schlucktherapie indiziert “, erläutert Denk-Linnert. Und weiter: „Wesentlich ist die Kenntnis, ob eine Aspiration vorliegt und die Empfehlung über die Art der Ernährung – oral oder non-oral – und Therapie.“ Bei Störungen der oropharyngealen Phase werden bereits erste Schritte in Richtung Therapie gesetzt wie etwa die Konsistenz der schluckbaren Nahrung bestimmt oder therapeutische Strategien wie die Kinn-Anteflexion beim Schlucken versucht.

Erhärtet sich der Verdacht auf eine Störung im ösophagealen Bereich, wird der Patient zur weiteren Abklärung an einen Gastroenterologen überwiesen. Auch hier können anatomische Veränderungen ursächlich für Schluckstörungen sein. „Typisch“ sei laut Maieron etwa das Zenker-Divertikel. Dabei kommt es zu einer Aussackung des Kehlrachens, die zur Regurgitation von Speisen und Mundgeruch führt. Aber auch Schilddrüsenerkrankungen wie große Strumen können zu Schluckbeschwerden führen, ebenso wie Säure- und Laugenverletzungen.

Veränderungen des Ösophagus

Auch entlang der Speiseröhre auftretende Veränderungen kommen als Differentialdiagnose in Betracht. So können Tumore im Hypopharynx-Bereich, aber auch ein Ösophaguskarzinom oder vergrößerte Lymphknoten aufgrund eines Lymphoms im Mediastinum zu Schluckbeschwerden führen. Auch Achalasie kann die Ursache von Schluckbeschwerden sein. „Jede Entzündung der Speiseröhre, unabhängig davon, ob sie infektiöser Genese ist oder durch immunologische Entzündung ausgelöst wird, kann zu Schluckbeschwerden führen“, erklärt Maieron. Bereits die Anamnese kann einen Hinweis darauf geben, welche Ursache der Schluckstörung zugrunde liegen könnte. Maieron rät dazu, den Patienten zu bitten, einen Schluck Wasser zu trinken. „Das Zuschauen hilft weiter: Wenn die Unfähigkeit darin besteht, das Wasser bis zur Speiseröhre zu transportieren, liegt sehr wahrscheinlich eine neurologische Symptomatik der Hirnnerven vor.

Zur weiteren Basisdiagnostik zählt neben der HNO-Inspektion die Gastroskopie, um auf eine Entzündung der Speiseröhre hin abzuklären, sowie das Schluckakt-Röntgen, um den funktionalen Ablauf des Schluckakts abzubilden. Hier können funktionelle und morphologische Störungen während des Transports von der Mundhöhle bis zum Magen diagnostiziert und quantitative Aspekte beurteilt werden. Bei Verdacht auf eine Achalasie sollte außerdem eine Spezialdiagnostik mit hochauflösender Manometrie der Speiseröhre durchgeführt werden.

„Eine Erkrankung, die wir heute häufiger sehen als noch vor zehn Jahren – oder die wir damals noch nicht richtig diagnostizieren konnten – ist die eosinophile Ösophagitis“, berichtet Maieron aus der Praxis. Mit einer Prävalenz von 40 bis 50 pro 100.000 Einwohner und einer jährlichen Neuerkrankungsrate von fünf bis zehn pro 100.000 sei die eosinophile Ösophagitis „keine seltene Krankheit“, so Maieron. Die Ursache ist noch unklar. Wahrscheinliche Ursache der eosinophilen Ösophagitis ist eine gestörte Barrierefunktion. Durch die Exposition der Abwehrzellen gegenüber dem Nahrungsbrei kommt es zur Aktivierung der T‑Zellen, die zu einer letztlich immunvermittelten Entzündung führt. Viele Patienten mit eosinophiler Ösophagitis leiden außerdem an Atopie, Asthma oder einer Nahrungsmittelallergie. „Es besteht sicher ein Zusammenhang mit Allergien, da es ja zu einer Einwanderung der Eosinophilen kommt. Aber es gibt keine guten Daten, die die Zunahme der Häufigkeit erklären.“

Häufigstes Erstsymptom einer eosinophilen Ösophagitis ist die Bolus-Obstruktion, berichtet Maieron. „Patienten bleibt die Nahrung in der Speiseröhre stecken, sodass sie teils nicht mehr ihren eigenen Speichel schlucken können. In der Regel führt das rasch zu einer Vorstellung in der Notaufnahme und einer akuten Gastroskopie.“ In der Endoskopie werden bei rund 75 Prozent der Patienten makroskopische Veränderungen sichtbar, wie weiße Ringe, Exsudate, eine Krepp-Papier-Mukosa oder eine Trachealisierung der Speiseröhre. Für die Diagnose ‚eosinophile Ösophagitis‘ sollten mindestens sechs Proben proximal, zentral und distal aus dem Ösophagus genommen werden; außerdem sollten Läsionen biopsiert werden. Der Nachweis von mindestens 15 Eosinophilen pro hochauflösendem Gesichtsfeld (high power field) erfüllt die Diagnosekriterien.

Die eosinophile Ösophagitis wird typischerweise mit einem topischen Steroid, das an der Ösophaguswand anhaftet, behandelt. Dieses wird über vier bis sechs Wochen angewendet; rund drei Viertel der Patienten sprechen auf diese Behandlung an. „Allerdings haben wir eine extrem hohe Rezidivrate“, erklärt Maieron. „Wir nehmen daher an einer Studie teil, die untersucht, ob Patienten eine Langzeit-Behandlung mit einem topischen Steroid benötigen.“ Alternativ könne auch versucht werden, Patienten mit hochdosierten Protonenpumpen- Hemmern zu behandeln. Allerdings liegt die Ansprechrate hier nur bei 30 Prozent.

Unterschätztes Problem

„Schluckstörungen sind ein häufiges Problem, das bis dato unterschätzt wird, vor allem die neurogenen Dysphagien“, erklärt Christof Bocksrucker von der Abteilung für Neurologie am Kardinal Schwarzenberg Klinikum im Pongau. Sowohl Erkrankungen des Zentralnervensystems als auch des peripheren Nervensystems, neuromuskuläre Erkrankungen und neurodegenerative Erkrankungen können begleitend Schluckstörungen verursachen. „Im Spätstadium von Demenzen sind Schluckstörungen ebenfalls häufig. Sie können Aspirationspneumonien, und damit durchaus lebensgefährliche Situationen, auslösen“, betont Univ. Doz. Udo Zifko von der Abteilung für Neurologie im Evangelischen Krankenhaus Wien. Auch die direkte Nervenversorgung der Mundhöhle kann betroffen sein und den Nahrungstransport beziehungsweise das Schlucken erschweren.

Die häufigste Ursache für eine neurogene Schluckstörung ist der Insult, wie Bocksrucker betont. „Rund die Hälfte aller Schlaganfall-Patienten zeigt – mehr oder weniger starke –Schluckstörungen.“ Schluckstörungen in Folge eines Schlaganfalls führen, so Bocksrucker, zu einem deutlich erhöhten Risiko für Komplikationen wie der Aspirationspneumonie. Sie verschlechtern nachweislich das Outcome und erhöhen die Mortalität. Besonders bei schwerwiegenden Multi-Infarktsyndromen können mehrere für die Steuerung des Schluckens benötigte Areale im Gehirn betroffen sein, ergänzt Zifko. „Bei vielen Infarkten kann es zu verlangsamtem Schlucken und einer dysarthritischen Sprechweise kommen.

Häufig kommt es auch im Rahmen von degenerativen Erkrankungen zu einer Schluckstörung. „Bei Morbus Parkinson tritt häufig vor allem im längerfristigen Verlauf eine Schluckstörung auf, die die Lebensqualität erheblich einschränkt“, berichtet Bocksrucker. Bei Patienten mit Morbus Parkinson können mehrere Elemente des Schluckens beeinträchtigt sein, erläutert Zifko. „Auch eine verlangsamte Motorik und die Versteifung am Rumpf verlangsamen den Essenstransport und den Speicheltransport, bei fortgeschrittenen Fällen kommt es zu Verschlucken und Mangelversorgung.“ Außerdem kann es zu Drooling, dem Abrinnen von Speichel, kommen. Die Schluckstörung ist Teil einer autonomen Störung, die auch für die Versorgung mit Medikamenten von Relevanz ist. Aufgrund der verzögerten Freisetzung der Wirkstoffe im Darmtrakt ist daher für manche Medikamente die Nutzung einer Duodenalsonde notwendig.

Hinweise auf neurogene Dysphagien können indirekt sein wie wiederholt erhöhte Entzündungszeichen, Hüsteln oder Räuspern nach dem Essen. „Das sind typische anamnestische Hinweise, die Patienten berichten. Andererseits sollte man nach diesen Zeichen auch aktiv fragen, etwa bei Parkinson-Patienten oder Patienten mit ALS“, rät Zifko.

Ob die Schluckstörung als primäres Symptom oder als Teil mehrerer Symptome auftritt, hängt von der primären Ursache ab. „Bei Patienten mit einem Schlaganfall ist die Schluckstörung einer von mehreren groben Ausfällen. Bei chronischen neurologischen Erkrankungen wie Parkinson oder MS tritt die Schluckstörung eher im längeren Verlauf auf“, erklärt Bocksrucker. Anhand der zum Krankheitsbild passenden Begleitsymptome und spezifischen Ausfälle könne die Ursache für eine neurogene Dysphagie eingegrenzt werden. Außerdem tritt die Dysphagie manchmal isoliert, manchmal gemeinsam mit einer Dysarthrie auf, was ebenfalls Hinweise auf die Ursache liefert, erläutert Zifko. „Beim Multi-Infarktsyndrom, aber auch bei neuromuskulären Erkrankungen und in ganz anderer Weise beim Morbus Parkinson kommt es zu einer Veränderung der Artikulation. Für Parkinson ist etwa die leise, monotone Sprechweise mit wenig Betonung charakteristisch.“

Generell sei es einfacher, eine Schluckstörung einer bereits bekannten Erkrankung wie M. Parkinson oder ALS zuzuordnen, als die Ursache bei einer Erkrankung mit Schluckstörung als führendem Symptom zu identifizieren. Dysphagie als führendes Symptom kann etwa bei Myasthenia gravis auftreten, bei der die Impulsübertragung zwischen Nerv und Muskel vermindert ist. „Das äußert sich typischerweise so, dass das Essen zu Beginn kein Problem ist. Im Laufe der Mahlzeit erschöpft die Muskulatur so stark, dass Essen unmöglich wird. Oder der Patient kann problemlos frühstücken, aber nicht Abendessen. Da muss man in Richtung Myasthenia gravis abklären“, berichtet Zifko aus der Praxis. Bei Verdacht auf eine neurogene Dysphagie sollte eine klinisch-neurologische Untersuchung erfolgen, die etwa erfasst, wie der Gaumensegel steht oder ob der Patient einen Würgreflex auslösen kann. Erhärtet dies den Verdacht auf eine neurologische Ursache, erfolgt eine neurologische Schluckakt-Untersuchung mittels Endoskopie. „Wenn eine endoskopisch beobachtbare Abtransportschwierigkeit der Nahrung auftritt beziehungsweise der Bolus nicht weitertransportiert wird, so kann auf eine neurogene Schluckstörung und ihr Ausmaß rückgeschlossen werden“, erklärt Zifko.

Nebenwirkung von Medikamenten

Gleichzeitig sollte berücksichtigt werden, dass Schluckstörungen auch eine Nebenwirkung von zahlreichen Medikamente sein können, insbesondere von Neuroleptika und manchen Benzodiazepinen, betont Bocksrucker. „Wenn Schluckstörungen bestehen und keine Ursache gefunden wird, so macht es Sinn, die Medikation zu evaluieren.“ Auch psychogene Faktoren können eine Schluckstörung bedingen. Grundsätzlich sei es aber so, dass mit zunehmendem Lebensalter unabhängig von spezifischen Erkrankungen das Risiko für leichte Schluckstörungen steigt. So wurde laut Bocksrucker in Studien gezeigt, dass rund die Hälfte aller Bewohner in Pflegeheimen an einer Schluckstörung leidet.

Die Therapiemöglichkeiten sind bei neurogenen Dysphagien ähnlich, aber begrenzt. So können etwa Schlucktraining und das Erlernen von Schlucktechniken mit Logopäden helfen. „Gerade Patienten mit Morbus Parkinson können mit Schlucktechniken unterstützt werden“, berichtet Zifko. Außerdem werden Elektrostimulationsverfahren entwickelt, die den Schluckmechanismus elektrisch stimulieren und die Regeneration fördern. „Wenn eine Schluckstörung im Rahmen eines Schlaganfalls auftritt, können Patienten mit Stimulationsverfahren begleitend behandelt werden, denn das fördert die Wiederaktivierung des Schluckmechanismus“, erläutert Bocksrucker. Bei Erkrankungen, die nicht chronisch fortschreiten, sei es überdies einfacher, Verbesserungen zu erzielen, als bei Krankheiten, die im Verlauf schlechter werden.


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 /25.06.2022
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