Medizin & Wissenschaft

Suchtpotential von Benzodiazepinen: Nicht Präparat, sondern Person

Lesezeit: 3 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Das Suchtpotential von Benzodiazepinen liegt nicht im Präparat, sondern in der Person. Besonders betroffen sind jene, die auch von anderen Substanzen abhängig sind. Außerdem ist eine Niedrigdosis-Abhängigkeit möglich: Es kommt zur physischen und psychischen Abhängigkeit ohne Dosissteigerung.

von Manuela‑C. Warscher

Die Prävalenz bei der Abhängigkeit von Sedativa und Hypnotika liegt bei etwa zwei Prozent. Benzodiazepine und Non-Benzodiazepin-Hypnotika (Z-Drugs) sind davon besonders betroffen, da sie ihre Wirkung über die inhibitorischen GABA-Rezeptoren entfalten und eine erhebliche Toleranz induzieren können. Dadurch kommt es zu Dosissteigerungen, physischer und psychischer Abhängigkeit, Kontrollverlust und Entzugssymptomen. Psychiatrische und psychosomatische Krankheitsbilder wie Angst und Schlafstörungen sind prädisponierende Faktoren. „Das Suchtpotential von Benzodiazepinen liegt allerdings nicht im Präparat, sondern in der Person“, betont Univ. Prof. Michael Lehofer von der Abteilung von Psychiatrie und Psychotherapie 1 der Medizinischen Universität Graz. Eine Abhängigkeit entwickelten – so rezente Studien – nämlich meist Personen, die auch von anderen Substanzen wie Alkohol, Opiaten oder Hypnotika abhängig sind. Außerdem müsse auch immer zwischen körperlicher und psychischer Abhängigkeit unterschieden werden. „Abhängigkeit wird signifikant von psychologischen Faktoren begünstigt. Ein Schmerzpatient wird über das Absetzen von Opiaten froh sein, ein Patient mit Schlafproblemen unter Benzodiazepinen weniger“, führt Lehofer aus.

Benzodiazepine kommen seit vielen Jahren als Schlafmittel, krampflösendes Arzneimittel, Tranquilizer oder Muskelrelaxantien zum Einsatz. Die Zahl der Verordnungen ist bei Frauen deutlich höher als bei Männern und nimmt als Langzeitverordnungen mit dem Alter exponentiell zu. Die empfohlene Verschreibungsdauer werde – obwohl „Benzodiazepine primär ein ideales Arzneimittel für den Notfall, vor allem bei psychiatrischen Indikationen“ sind, häufig nicht eingehalten, so Univ. Doz. Michael Willis vom Department für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Medizinische Psychologie der Medizinischen Universität Innsbruck. Demnach sollte eine Einnahme bei Schlafstörungen die Dauer von vier Wochen und jene bei Angststörungen acht Wochen nicht überschreiten. „Vor einem Einsatz des Arzneimittels bei Schlafstörungen ist eine psychoedukative Schulung des Patienten angezeigt“, so Willis. Dabei sollten Faktoren wie Schlafhygiene ebenso thematisiert werden und Missverständnisse hinsichtlich der tatsächlichen Schlafdauer müssen ausgeräumt werden. „Viele Patienten sind der Ansicht, dass sie wesentlich mehr Schlaf benötigen würden als notwendig.“ Der Experte empfiehlt, grundsätzlich vor jeder potentiellen Benzodiazepin Verordnung Alternativen in Erwägung zu ziehen. „Beispielsweise sind Antidepressiva bei Schlafstörungen eine Option, auch wenn die Wirksamkeit weniger gut als bei Benzodiazepinen ist, oder eine Kombination aus Verhaltenstherapie und Antidepressiva bei Angststörungen.“

Beginn als Langzeitkonsum

Das Problem der Abhängigkeit beginnt mit dem Langzeitkonsum von Benzodiazepinen und einer damit einhergehenden Dosissteigerung. Die Gefährdung nimmt nach der empfohlenen Einnahmedauer von vier Wochen konstant zu, ist aber von Patient zu Patient unterschiedlich. Schätzungen zufolge sind aktuell etwa 140.000 Österreicher von Beruhigungs- und Schlafmitteln abhängig. Häufig tritt die ursprüngliche Indikation wie Angststörung in den Hintergrund und das Arzneimittel wird eingenommen, um die Funktionsfähigkeit zu erhalten und Entzugssymptome zu lindern. Lehofer bestätigt, dass die „angstlösende Komponente die primäre Abhängigkeitsursache“ ist. Und weiter: „Je weniger der Patient das Präparat braucht, um angstfrei zu sein, umso geringer ist auch die Abhängigkeitsgefährdung.“ Dabei ist das Suchtrisiko zwar bei rasch anflutenden Substanzen wie Flunitrazepam deutlich erhöht, kann aber auch bei Z-Substanzen auftreten. Außerdem kann es bei Benzodiazepinen zur Niedrigdosis-Abhängigkeit kommen, bei der die psychische und physische Abhängigkeit ohne Dosissteigerung auftritt.

Alternativen beim Absetzen

Ähnlich wie bei der therapeutischen Strategie sollte auch beim Absetzen von Benzodiazepinen auf Alternativen zurückgegriffen werden. „Das Dilemma ist aber, dass ein Patient, der sich einmal an die rasche Wirkung von Benzodiazepinen gewöhnt hat, selbst kein Interesse hat, davon wieder weg zu kommen“, erklärt Willis. Lediglich 13 Prozent der Betroffenen schaffen nach einem Jahr Benzodiazepin-Einnahme den Entzug; langfristig kann nur ein Drittel ohne das Arzneimittel auskommen. Denn: In niedrigen Dosen sind mit der Einnahme kaum Nebenwirkungen verbunden. Diese treten erst in höheren Dosen auf. „Dabei ist nicht nur das Sturzrisiko vor allem beim geriatrischen Patienten erhöht, auch das Demenzrisiko steigt an“, berichtet Willis.

Das Absetzen von Benzodiazepinen dauert mindestens so lange wie die Therapie. „Ein Jahr Behandlung bedeutet ein Jahr Ausschleichen“, sagt Lehofer. Dabei wird die Dosis schrittweise in Intervallen von ein oder zwei Wochen reduziert. Willis warnt allerdings davor, den Entzug länger als ein halbes Jahr durchzuführen, da „er sonst zum Fokus des Patienten“ werde. „Mit dem letzten Rest muss man sich extrem viel Zeit lassen“, ergänzt Lehofer. Der Patient sollte dabei mit einem Messer die tägliche winzige Dosis von der Tablette abschneiden.“ Dieser letzte Intervallschritt sei von wesentlich stärkeren Symptomen begleitet als alle Schritte zuvor. Symptome können aber auch Monate oder Jahre nach einem erfolgreichen Entzug wieder auftreten. Dann sei es laut dem Experten „besonders schwer“, diese retardierten Entzugssymptome wie depressionsartige Zustände oder Ängste korrekterweise mit der vergangenen Benzodiazepine-Einnahme in Verbindung zu bringen. Lehofer dazu: „Die Symptome treten wieder stärker auf und die Unterscheidung zwischen Abhängigkeits- und Krankheitssymptomen ist häufig nicht möglich.“


Auf einen Blick

1) Benzodiazepine und Non-Benzodiazepin-Hypnotika (Z‑Drugs) können über die inhibitorische GABA-Wirkung erhebliche Toleranz induzieren. Sie sind Notfall-Therapeutika; keine Langzeitverschreibungen!
2) Die Verordnung sollte vier Wochen bei Schlafstörungen und acht Wochen bei Angst nicht überschreiten. Therapeutische Alternativen erwägen!
3) Bei Abhängigkeit tritt die Ursprungsindikation in Hintergrund: Das Arzneimittel wird gegen den Entzug und für die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit eingenommen.
4) Die Formel beim Ausschleichen lautet „Dauer der Therapie ist Dauer des Entzugs“. Auch noch nach Jahren können Entzugssymptome auftreten.


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15–16 /15.08.2022
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