Medizin & Wissenschaft

Beinödeme – Score zur Abschätzung

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Als Ursache für Beinödeme kommt eine Vielzahl von Krankheitsbildern in Frage. Der Wells-Score dient zur klinischen Abschätzung der Wahrscheinlichkeit einer tiefen Beinvenenthrombose. Die führende kardiale Ursache von Beinödemen ist die Herzinsuffizienz.

von Martin Schiller

Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz, Leberinsuffizienz, Thrombosen, Tumore oder operative Eingriffe – viele Krankheitsbilder kommen als Ursache für Beinödeme in Frage. „Für die Abklärung ist zunächst wichtig, ob Ödeme an beiden Beinen oder einseitig auftreten. Liegen Ödeme an beiden Beinen vor, kann dies auf eine kardiale Ursache hindeuten oder es liegt ein Proteinmangel zugrunde. Einseitige Ödeme basieren oft auf Gefäßproblemen“, erklärt Assoc. Prof. Thomas Gary von der Klinischen Abteilung für Angiologie der Medizinischen Universität Graz. Und weiter: „Das Ödem selbst ist als Flüssigkeitseinlagerung definiert. Eine wichtige Frage dabei ist aber: Wann liegt eine Thrombose vor?“ Bei Patienten mit Varizen, die abends leicht geschwollene Beine haben, bestehe diesbezüglich meist noch keine große Sorge. „Kann ein Patient jedoch kaum noch schmerzfrei gehen, ist natürlich die Abklärung mit Verdacht auf eine tiefe Beinvenenthrombose indiziert“, betont der Experte.

Phlebografie oft obsolet

Der diagnostische Prozess zur Abklärung einer tiefen venösen Thrombose (TVT) beginnt mit der Einschätzung der klinischen Wahrscheinlichkeit. Dazu steht mit der Ermittlung des Wells-Scores ein „validiertes Instrument“ (Gary) zur Verfügung (siehe Tabelle). Basierend auf dieser Einschätzung kann ein D-Dimer-Test durchgeführt werden. D-Dimere entstehen als Spaltprodukte aus Fibrin und zeigen eine vermehrte Gerinnungs- und Fibrinolyseaktivität jeglicher Genese an. „Sowohl bei hohem Wells-Score als auch bei entsprechenden Beschwerden und erhöhtem D-Dimer-Wert sollte zur weiteren Abklärung beziehungsweise zum Ausschluss einer Thrombose ein Bildgebungsverfahren durchgeführt werden“, sagt Gary. Die Bildgebung erfolge mittels Ultraschall; die früher eingesetzte Phlebologie sei heute obsolet.

 

Mit einer therapeutischen Antikoagulation sollte bereits vor der Sicherung der Thrombosediagnose begonnen werden: „Bestätigt sich der Verdacht auf eine Thrombose, hat die Therapie dann nämlich schon begonnen.“ Spätestens nach Abklärung der Ursache sei die Therapie mit NOAKs indiziert. Eine tiefe Beinvenenthrombose müsse umgehend behandelt werden, um eine Lungenembolie zu verhindern, „denn diese ist die größte Komplikation einer TVT“. Bei Atemnot und Verdacht auf Lungenembolie sollte eine Überweisung in spitalsärztliche Behandlung erfolgen.

Flüssigkeitsansammlungen in den Beinen können auch eine Berufskrankheit sein. Davon betroffen sein können Menschen, die im Zuge der Ausübung ihres Berufs überwiegend stehen, aber auch „Personen, die im Berufsalltag viel sitzen, wie Büroangestellte, Schalterbedienstete und Fernfahrer“.

Lymphödeme sind ebenso mögliche Ursachen für meist vorfuß- und knöchelbetonte Ödeme. Eine mögliche Komplikation des Beinlymphödems sei das Erysipel, wie Gary erklärt.: „Die gestaute Lymphe begünstigt die Vermehrung von Streptokokken, die Rotlauf auslösen können. Ein Risiko besteht aber auch umgekehrt: Bei Rotlauf verkleben durch die Streptokokken die Lymphspalten, die Lymphe kann nicht abfließen und Ödembildung ist die Folge.“

Hinweis auf Herzinsuffizienz

Die führende kardiale Ursache für Beinödeme ist eine Herzinsuffizienz, berichtet Univ. Prof. Johann Auer von der Abteilung für Innere Medizin I des Krankenhauses St. Josef Braunau. „Besonders bei älteren Menschen können Beinödeme als Hinweis auf eine Herzinsuffizienz gesehen werden.“ Eine ausführliche Anamnese sei zur Abklärung nötig: „Kurzatmigkeit, verminderte Leistungsfähigkeit und Abgeschlagenheit sind klassische Symptome.“ Betrachten müsse man aber immer das individuelle Risikoprofil wie zum Beispiel das gleichzeitige Vorliegen einer Arteriellen Hypertonie oder eines Diabetes mellitus oder eines Myokardinfarkts in der Vorgeschichte. Um die Diagnose zu sichern oder eine Herzinsuffizienz auszuschließen, sollte ein BNP-Bluttest gemacht werden. Gemessen wird dabei das Brain Natriuretic Peptide, das im Herz gebildet wird. „Bei deutlich erhöhtem Wert ist eine Mitbeteiligung des Herzes an der Entstehung des Ödems wahrscheinlich“, sagt Auer. Die Absicherung der Diagnose mache das Beinödem zum Leitsymptom und ermögliche die Einleitung einer gezielten Therapie.

Liegt eine Herzinsuffizienz zugrunde, sei das Ödem als Ausdruck einer Überwässerung eine zusätzliche Belastung für das Herz. „Es kommt gewissermaßen zu einem Teufelskreislauf“, sagt Auer. „Die Herzfunktion droht zu dekompensieren. Es kann zur Ansammlung von Wasser in der Lunge kommen und diese Überwässerung beeinträchtigt wiederum die Herzleistung.“

Als Ursache von Beinödemen kommt auch die Einnahme von Medikamenten wie zum Beispiel Calcium-Antagonisten im Rahmen einer kardiologischen Behandlung in Frage, wie Auer betont. So sei beispielsweise Amlodipin ein möglicher Auslöser. Auch Gary macht auf diese Problematik aufmerksam und verweist auf zeitliche Zusammenhänge: „Ist die Verschreibung kürzlich erfolgt, kann dies der Grund für die Ödembildung sein. Wenn ein Patient Calcium-Antagonisten jedoch jahrelang gut vertragen hat, scheiden diese als Ursache des plötzlich auftretenden Beinödems aus.“

 

In der Frühphase: Kompression

Die Entstauungstherapie mit Kompressionsstrümpfen ist ein wichtiger Teil der Therapie von Ödemen. Sie kann in der Frühphase einer Thrombose zum Einsatz kommen und damit die Häufigkeit und Schwere eines postthrombotischen Syndroms reduzieren. „Früher wurde das Tragen der Strümpfe für einen Zeitraum von sechs Monaten verordnet. Heute erfolgt der Einsatz vor allem in der Akutphase und sorgt schnell für Linderung“, berichtet Gary. Der Effekt: „Der Rücktransport des Blutes zum Herz wird verbessert, die Venenwand entlastet.“

Die passende Kompressionsklasse richtet sich stets nach dem Beschwerdebild. „Klasse 1 mit leichter Kompressionsstärke wird bei Personen mit Varizen angewendet und findet auch bei Reisen klassischerweise Verwendung. Klasse 2 ist bei mittelmäßig ausgeprägten Ödemen sinnvoll. Klasse 3 ist durch eine kräftige Kompressionsstärke gekennzeichnet. Diese Strümpfe kommen zum Beispiel bei ausgeprägten Lymphödemen zum Einsatz und werden speziell an das bereits entstaute Bein angepasst. Eine starke Einengung ist hier sinnvoll, damit die Lymphe nicht wieder ins Interstitium fließt.“

Nach genauer Abklärung des Ödems können Bewegungsempfehlungen für die Patienten ausgesprochen werden. „Schwimmen hat sich als Bewegungsart bewährt“, sagt Gary. „Patienten mit Lipödemen sprechen oft gut auf Aquajogging an. Der dabei entstehende hydrostatische Druck des Wassers wirkt wie eine Kompressionstherapie.“ Die Wassertemperatur sollte sich im Normalbereich befinden, warmes Wasser werde von Venenpatienten oft als unangenehm empfunden. In der Akutphase rät Gary daher auch vom Besuch einer Therme ab. Die nach intensiver sportlicher Aktivität mögliche Thrombose der Arme ist bei den Beinen kein Thema. „Wenn der Muskel stark wächst, kann es passieren, dass Venen im Schultergürtel abgedrückt werden. Bei den Beinen besteht dieses Risiko nicht, da es weniger neuralgische Engstellen gibt.

 


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22/2022
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