Medizin & Wissenschaft
Vaskuläre Komplikationen bei Diabetes mellitus: Kontinuum Vaskulopathie
Lesezeit: 5 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Das Risiko für makrovaskuläre Komplikationen besteht häufig bereits vor der Diabetesdiagnose, wobei sich die Hyperglykämie als begünstigender Faktor kardiovaskulärer Beschwerdebilder erweist. Übergänge zwischen makro- und mikrovaskulären Komplikationen erfordern indessen verstärkte Aufmerksamkeit.
von Martin Schiller
Kardiovaskuläre Erkrankungen, Retinopathie, Nephropathie und Neuropathie tragen als Komplikationen des Diabetes mellitus wesentlich zu vorzeitiger Mortalität bei. Die Sinnhaftigkeit der Unterscheidung in makro- und mikrovaskuläre Komplikationen wird mittlerweile in Fachkreisen diskutiert. „Man kann vom Kontinuum einer diabetischen Vaskulopathie als Komplikation ausgehen, hier lösen sich strikte Trennlinien auf. Von der Ausprägung und Pathophysiologie ausgehend sollte die Trennung aber aufrechterhalten werden und die Übergänge Beachtung finden“, sagt Univ. Prof. Peter Fasching von der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie an der Klinik Ottakring in Wien. Es sei auch zu berücksichtigen, ob es sich um Spätkomplikationen oder um akute Komplikationen handle. Der Experte nennt dazu ein Beispiel aus dem makrovaskulären System: „Im Fall von Schlaganfall, Myokardinfarkt oder PAVK besteht die erhöhte Risikokonstellation bereits bevor ein Diabetes manifest ist. Personen mit Insulinresistenz haben nachweislich ein erhöhtes prämatures Großgefäßrisiko.“ Es trete auch immer wieder der Fall ein, dass bei stationärer Aufnahme von Patienten wegen makrovaskulärer Komplikationen ein bisher nicht-erkannter Diabetes festgestellt wird. „Bei einem Prädiabetes kann man in diesen Fällen also nicht von einer Spätkomplikation sprechen“, betont Fasching. Die Hyperglykämie gelte als mitbegünstigender Faktor einer kardiovaskulären Komplikation – neben den klassischen Risikofaktoren wie Hypertonie, hohem LDL-Cholesterin und erhöhtem Lipoprotein (a). „Epidemiologische Studien zeigen die Relevanz dieses modifizierbaren Risikofaktors deutlich“, sagt der Experte.
Retinopathie: Noxe Hyperglykämie
Der Begriff der Spätkomplikation trifft laut Fasching auf mikrovaskuläre Komplikationen eher zu, weil diese erst nach einem gewissen Zeitraum, über den sich eine Hyperglykämie erstreckt, ausgelöst würden. So lägen zum Zeitpunkt der Erstdiagnose eines Diabetes meist schon Zeichen einer diabetischen Retinopathie vor, wenn der Diabetes über mehrere Jahre nicht diagnostiziert war. Als wesentlichen Faktor nennt Fasching auch die Genetik. „Eine echte Diagnosemöglichkeit, ob ein Patient eher resistent oder eher vulnerabel ist, steht zwar nicht zur Verfügung, aber die familiäre Anamnese gibt oft gute Aufschlüsse, zum Beispiel, wenn bei einem nahen Angehörigen trotz jahrzehntelangem Diabetes keine Spätkomplikationen auftraten.“ Umgekehrt gebe es Fälle, in denen bereits nach kurzer Dauer des Diabetes eine progredientaggressive Retinopathie auftritt, die trotz guter Stoffwechselkontrolle einer augenärztlichen Intervention bedarf. Abseits des genetischen Hintergrundes seien aber 70 bis 80 Prozent der Fälle durch die Noxe Hyperglykämie bedingt und durch Optimierung des Stoffwechsels wäre in vielen Fällen Reversibilität möglich. „Bestand jedoch lange Zeit eine ausgeprägte Hyperglykämie mit präproliferativem Zustand der Netzhaut, kann eine abrupte Senkung des Blutzuckerspiegels bei rascher Stoffwechselnormalisierung zu einer Verschlechterung der Retinopathie führen“, warnt Fasching. Die Netzhaut würde die abfallende Blutglukose durch Angiogenese kompensieren und gerade die Neoangiogenese sei maßgeblich in der Pathogenese der Retinopathie. Die Gegenüberstellung makrovaskuläre Komplikation versus Retinopathie würde eindrücklich zeigen, dass eine Trennung Sinn ergebe, da die pathophysiologische Gemeinsamkeit nur in der Hyperglykämie bestehe.
„Nephropathie bei Diabetes“
Was früher als diabetische Nephropathie bezeichnet wurde, wird heute laut Fasching als „Nephropathie bei Diabetes mellitus“ benannt. Grund dafür: Die klassische Nephropathie sei als Komplikation des Typ-1-Diabetes in den Industrieländern aufgrund besserer Stoffwechselkontrolle in den Hintergrund gerückt. „Die klassische Nephropathie manifestiert sich über die Stufen Mikroalbuminurie, Makroalbuminurie und Funktionseinschränkung.
Viele Nephropathie-Formen, die wir heute beobachten, sind aber nicht zwingend durch eine Albuminurie gekennzeichnet, obwohl eine Funktionseinschränkung vorliegt“, erklärt Fasching. Auch müssten Alterungsprozesse der Niere, die nicht unmittelbar mit der Diabeteserkrankung zusammenhängen, berücksichtigt werden. „Die Nephropathie bei Diabetes ist eine heterogenere Erkrankung als die diabetische Nephropathie des alten Zuschnitts – wobei auch letztere nicht ausschließlich eine mikrovaskuläre Manifestationsform ist, sondern eine die das gesamte Organ betrifft.“ Mit SGLT2-Hemmern und Finerenon würden zusätzlich zur RAS-Blockade effektive therapeutische Optionen zur Verfügung stehen. „Finerenon ist derzeit jedoch nur bei Nephropathie mit Proteinurie zugelassen, weil die Zulassungsstudien so angelegt waren. Bei anderen Kollektiven muss die Wirkung erst überprüft werden“, berichtet Fasching. Auch GLP-1-Agonisten wie Semaglutide hätten in Studien bei Diabetes mellitus Typ 2 Nephroprotektion gezeigt.
Eine Änderung der Sichtweise gab es auch bei der diabetischen Neuropathie, wie Fasching ausführt: „Es sind nicht nur die kleinen, den Nerv versorgenden Gefäße durch Angiopathie beeinträchtigt, sondern auch Bestandteile der Nervenstränge.“ Die Spätform der Erkrankung sei mit einem Absterben der langen Nervenstränge verbunden. Dies führt irreversibel zu Hypästhesie und zu einer Reduktion der Nervenleitgeschwindigkeit.
Und Fasching nennt eine weitere mögliche Komplikation: „Wird nach einigen Monaten hyperglykämischen Zustands der Blutzuckerspiegel normalisiert, ist den Nerven das Substrat entzogen. Als Reaktion darauf kann es zu einem Inflammationssyndrom und damit zu einer Dysbalance der intrazellulären Stoffwechselwege kommen.“ Diese Komplikation verlaufe unabhängig von Insulin und sei nur auf die Problematik des fehlenden Substrats zurückzuführen, obwohl sich mancherorts der Begriff „Insulinneuritis“ dafür eingebürgert habe.
Mischformen vaskulärer Komplikationen manifestieren sich laut Fasching meist im kardiovaskulären System. Dabei würden Frauen mit früh auftretendem Diabetes zur mikrovaskulären Koronarsklerose tendieren. Prämenopausal bestehe zwar ein Schutz gegen die Atherosklerose der großen Gefäße, aber bei Typ 1-Diabetes zeige sich ein Risiko für die kleinen Gefäße. „Es kommt dann häufig zu Angina-pectoris-Beschwerden, obwohl die großen Gefäße nicht verschlossen sind“, sagt Fasching. Frauen mit Diabetes erleiden zudem häufiger als männliche Patienten eine Herzinsuffizienz bei Erhalt der linksventrikulären Ejektionsfraktion (HFpEF), weil die Pumpfunktion – speziell bei Hypertonie – beeinträchtigt ist, wie Fasching erklärt. Es handle sich dabei um einen Übergang zwischen mikro- und makrovaskulärer Komplikation.
Kognitive Funktionseinschränkungen treten bei Menschen mit Diabetes bei schlechter Stoffwechselkontrolle früher und/oder häufiger auf. Sie hängen auch von der Dauer des Diabetes ab. „Eine chronische Hyperglykämie stößt Glykosilierungsprozesse an, die im Gehirn zu Funktionsänderungen führen“, erklärt Fasching. Die bei Alzheimer-Demenz typischen Amyloidablagerungen würden auch bei Menschen mit Diabetes (sowohl bei Typ 1 als auch bei Typ 2) gehäuft als degenerative Gewebsrückstände auftreten. Bei der zentralen Neuropathie seien vermutlich mikrovaskuläre Areale des Gehirns beteiligt. Die zerebrale Mikroangiopathie löse wahrscheinlich kognitive Funktionsstörungen aus. Aktuelle Studien würden zeigen, dass der GLP-1-Rezeptor-Agonist Lixisenatid im Stadium der kognitiven Dysfunktion Verbesserungen bringen könnte.
Komplikationen vorbeugen
Gute Stoffwechselkontrolle im Sinne einer strikten Normalisierung der Blutglukose ist gemeinsam mit einer frühen Diagnose des Diabetes die Basis zur Vermeidung von Komplikationen. Hoffnung setzt man laut Fasching auch auf einen breiten Einsatz der potent wirkenden Inkretin-Mimetika. „Damit wird es möglich sein, viele Patienten und speziell jene in einem frühen Stadium der Krankheit in eine normoglykämische Situation überzuführen und damit Komplikationen zu vermeiden.“
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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14_2024
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