Medizin & Wissenschaft
Schwindel in der HNO: Komplexe Abklärung
Lesezeit: 5 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Gutartiger Lagerungsschwindel, Neuritis vestibularis und M. Menière stellen die drei möglichen Ursachen für akute und wiederkehrende Schwindel-Attacken aus Sicht der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde dar. Die Abklärung der Symptomatik erweist sich dabei als sehr komplex.
von Martin Schiller
Bei Schwindel ließen sich die drei möglichen zugrundeliegenden Erkrankungen „organisch gut diagnostizieren“, sagt Priv. Doz. Benjamin Loader, Facharzt für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten in Wien. Ebenso müssten auch Verspannungen der Nackenmuskulatur als weitere Ursache in Betracht gezogen werden.
Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel
(BPLS) ist bewegungsabhängig und eine der häufigsten Schwindelarten. Mikroskopisch kleine Calciumapatit-Kristalle (Canalolithen) werden durch Bewegung des Menschen aus den Otolithen-Organen im Innenohr, die die Richtung und Größe von Linearbeschleunigungen registrieren, mit Winkelbeschleunigung in die Bogengänge geschleudert. Dort führen sie zur Irritation der sensiblen Strukturen, die eine scheinbar deutliche Bewegung melden. „Für den Organismus ist es ein Signal, als würde er sich mit rund 1.000 Stundenkilometern um die Ecke bewegen und er müsse das kompensieren“, erklärt Loader. Es bewegen sich in der Folge kurz und kräftig die Augen. Drehschwindel, Übelkeit und mitunter Erbrechen treten ein. Bei manchen Patienten kann es auch zu Vernichtungsangst kommen.
Die Diagnose wird durch Provokation des Schwindels mittels Lagerungsproben (Dix-Hallpike-Manöver, Head-Roll-Test) und Beobachtung eines Lagerungs-Nystagmus gestellt. Ist sie bestätigt, kann ein aktives Befreiungsmanöver dafür sorgen, dass die Otolithen aus dem betroffenen Bogengang abfließen und der Patient von den Beschwerden befreit ist. Klassischerweise werden je nach betroffenem Bogengang das Manöver nach Epley, das Semont-Manöver, das Barbecue-Manöver oder das Gufoni-Manöver durchgeführt. Loader empfiehlt nach dem erfolgreichen Lagerungsmanöver eine Schulung des Patienten. Dabei gehe es um die Frage, was man beim neuerlichen Auftreten einer Attacke tun kann – zum Beispiel, wenn die Symptomatik durch Umdrehen im Bett ausgelöst wird. „Je nachdem, welcher Bogengang betroffen ist, gibt es spezifische Übungen, die Patienten selbst durchführen können. Auch ein Gleichgewichtstraining ist ratsam“, betont Loader.
Bei wiederkehrendem Schwindel sollte auch der Vitamin D-Spiegel kontrolliert werden, rät Assoc. Prof. Priv. Doz. Dominik Riss von der Universitätsklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten an der Medizinischen Universität Wien. „Studien zeigen, dass sich bei Vitamin D-Mangel die Häufigkeit für Rezidive bei einem benignen Lagerungsschwindel erhöhen könnte.“ Es sei derzeit nicht abschließend geklärt, ob eine Substitution von Vitamin D und auch Calcium die Rezidiv-Häufigkeit senkt. Ein etwaiger Mangel des Vitamins sollte aber als Ursache wiederkehrender Symptomatik berücksichtigt werden.
Langjährig bestehender Schwindel führt laut Riss zu Unsicherheiten im Alltag. Er empfiehlt daher bei jedem Patienten, der seit langem unter wiederkehrenden Schwindelattacken leidet, einmal eine Lagerungsprobe zur Abklärung durchzuführen.
Kurzschluss im Gleichgewichtsorgan
Die Neuritis vestibularis führt zu einem plötzlich einsetzenden Drehschwindel. „Der Patient hat für mehrere Stunden das Gefühl, Karussell zu fahren. In manchen Fällen wird auch beschrieben, dass es sich anfühlt, als würde der Magen ausgehoben“, berichtet Loader aus der Praxis. Begleitende Symptome sind Übelkeit, Erbrechen und ein Hin- und Herspringen von Bildern, was die Orientierung stark einschränkt. Aus noch unbekannten Gründen – die Herpes-simplex-Virus-Theorie konnte nicht erhärtet werden – kommt es bei Neuritis vestibularis einseitig zu einer elektrischen Fehlfunktion im Gleichgewichtsorgan. „Normalerweise funktionieren die beidseitigen Gleichgewichtsorgane wie eine Waage. Durch eine Art Kurzschluss auf einer Seite fällt die Ruhe-Aktivität weg und der Körper wird komplett aus dem Gleichgewicht gebracht“, erklärt Loader den Grund für die massive Symptomatik. Ein Vestibularis-Ausfall kann zwar in jedem Alter auftreten; einen Gipfel gibt es zwischen dem 40. und 45. Lebensjahr.
Red Flags
Zu den Gefahrenzeichen im Rahmen von Schwindelattacken zählen:
- Ausfall mehrerer Körperfunktionen wie zum Beispiel eine Kombination aus Schwindel mit einem Ausfall des N. facialis oder bei Problemen, den Arm zu heben.
- Bewusstseinsverlust
- Schwindel bei kardiovaskulärer Grunderkrankung
- Vertikaler Nystagmus
Die Therapie der Neuritis vestibularis erfolgt mit Antiemetika und Kortison. Bei anhaltendem Erbrechen müssen Flüssigkeit und Elektrolyte ersetzt werden; außerdem ist ein Gleichgewichtstraining erforderlich. Laut Loader ist eine Regeneration des Gleichgewichtsorgans möglich. „Geschieht das nicht, tritt das Gehirn in eine Kompensationsphase über, die einige Wochen bis Monate dauern kann.“ In dieser Zeit werden Informationen und Input von der noch intakten Seite gewonnen (zentrale Kompensation). „Die Betroffenen können auch wieder normal ihrem Alltag nachgehen und müssen nur von bestimmten Tätigkeiten Abstand nehmen wie auf Gerüste zu klettern oder Motorradfahren“, berichtet Loader.
Ausschlussdiagnose M. Menière
Bei der Trias von Drehschwindel mit meist einseitiger Hörminderung (die sich in weiterer Folge zu Schwerhörigkeit entwickeln kann), Tinnitus und erhöhtem Ohrdruck handelt es sich um M. Menière. Im akuten Anfall zeigt sich ein horizontaler Spontan-Nystagmus. „Die Krankheit ist eine Ausschlussdiagnose“, sagt Riss. Zunächst solle ein Test auf das Hörvermögen für tiefe Töne durchgeführt werden, da die Hörminderung meist tieftonbetont ist. Ein MRT des Kleinbrückenwinkels gibt Aufschluss über eine mögliche Tumorerkrankung – wie zum Beispiel ein vestibuläres Schwannom. Auch eine vestibuläre Migräne muss zunächst ausgeschlossen werden. Ein zusätzlicher Puzzle-Stein bei der Diagnose stellt ein Hydrops-MRT dar, wenngleich dieses laut Riss „nicht zwingend erforderlich ist, weil es keinen eindeutigen Beweis liefert“.
Die Behandlung der Erkrankung sei nach Einschätzung von Riss „unspezifisch“. Es bestehe Evidenz für eine intratympanale Kortisontherapie. „Es gibt auch Studien, die für die orale Gabe von Betahistin eine Wirkung ergeben haben. In anderen Studien war die Wirkung vergleichbar mit Placebo“, berichtet Riss. Der Experte nennt als Standarddosis für Betahistin dreimal täglich 24 mg, die auf bis zu 48 mg dreimal täglich erhöht werden kann. Experten vom Deutschen Schwindelzentrum des LMU-Klinikums München empfehlen außerdem, Betahistin mit einem MAO-Hemmer zu kombinieren, weil der Wirkstoff zu einem großen Teil über MAO metabolisiert werde.
Als invasive Behandlungsform kommt bei M. Menière unter anderem der Einsatz eines Paukenröhrchens ins Trommelfell zur Anwendung. „Damit lässt sich der Ohrdruck etwas mindern. Bei einigen Patienten hat sich diese Therapie als hilfreich erwiesen“, berichtet Riss. In nicht gut kontrollierten Studien wurde außerdem der Effekt einer Labyrinth-Anästhesie dokumentiert. „Dabei wird nach Betäubung des Trommelfells ein Lokalanästhetikum ins Mittelohr injiziert. Es ist aber fraglich, ob der Effekt über Placebo hinausgeht“, resümiert Riss.
Weitere mögliche Behandlungsformen sind die Dekompression des Saccus endolymphaticus und eine Labyrinthektomie mit Gentamicin. „Die Injektion von Gentamicin ins Mittelohr führt zu einem bleibenden Ausfall des Gleichgewichtsorgans und kann einen zusätzlichen Hörverlust verursachen“, schränkt Riss ein. Die Injektion komme nur bei massiven Schwindelanfällen zum Einsatz oder wenn das Hörvermögen bereits sehr schlecht ist. Mit einer Cochlea-Implantation könne man aber mittlerweile wieder Erfolge beim Hörvermögen erzielen, weiß der Experte. Insgesamt sei der Beweis für Behandlungserfolge bei M. Menière in Studien nicht leicht anzutreten, meint Riss: „Es ist dafür eine lange Beobachtungszeit von zwei Jahren und eine gute Kontrolle notwendig.“
Posturale Instabilität im Alter
Eine Gleichgewichtsstörung im Vorfeld der Diagnose „Schwindel“ ist die posturale Instabilität, eine Störung der aufrechten Körperhaltung durch mangelhafte Halte- und Stellreflexe. Das Risiko dafür nimmt mit steigendem Alter zu, „weil die für die Orientierung zuständigen Systeme Auge, Gehör, Gleichgewichtssinn, Blutdruck und taktile Wahrnehmung nicht symmetrisch nachlassen“, wie Loader erklärt. Die zunehmende Inaktivität lässt außerdem Gleichgewichtsstörungen mehr zum Tragen kommen. Nach dem Ausschluss von neurologischen und neurodegenerativen Erkrankungen ist eine Übungs- und Trainingstherapie „unerlässlich“, wie Riss betont.
Eine mögliche Therapie-Option ist die Augenstimulation. „Im asiatischen Raum wird bereits viel mit Virtual Reality-Brillen gearbeitet. Dabei müssen Bewegungen imitiert werden, die in der Brille vorgemacht werden“, erklärt Loader. Er nennt aber auch analog durchführbare Übungen: „Hilfreich ist es beispielsweise, dem Daumen nachzuschauen, während der Körper dazu gedreht wird. Man kann aber auch beim Spazierengehen einen Punkt anvisieren und diesen dabei ansteuern.
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