Medizin & Wissenschaft

Esssucht: Kontrolliert unkontrolliert

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Menschen, die an einer Esssucht leiden, erleben die Vorschriften, Kontrollen oder auch Einschränkungen in Bezug auf ihre Nahrungsaufnahme als massiven Eingriff in ihre Privatsphäre und Autonomie. Bei Orthorexie liegt zwar der Fokus auf gesunder Ernährung; dahinter steckt jedoch eine Essstörung.

von Peter Bernthaler

Die Frage, ob pathogenetische Faktoren für die Ausprägung von Ess-Störungen wie Bulimie oder Binge-Eating oder andere Grunderkrankungen ursächlich sind, ist noch nicht bis ins Detail geklärt. Sowohl physiologisch-körperliche als auch psychologisch-seelische Ursachen kommen in Frage. Nicht zuletzt spielt hier auch die Abhängigkeit vom medizinisch-fachlichen Betrachtungspunkt eine Rolle. Dazu Assoc. Prof. Yvonne Winhofer-Stöckl von der Universitätsklinik für Innere Medizin III an der Medizinischen Universität Wien: „Wir beobachten Binge-Eating und Bulimie bei Adipösen, jedoch bei Normal gewichtigen noch häufiger.“

Nicht jede Heißhungerattacke ist als pathologisches Esssucht-Verhalten zu qualifizieren. „Ab und zu eine Essattacke kann schon vorkommen. Das soll man jetzt nicht als Drama einstufen. Das Entscheidende ist, dass ein Suchtverhalten zu einer starken psychischen Belastung und damit wirklich zum Problem wird“, so Winhofer-Stöckl weiter. Das Zwangsverhalten führt die Betroffenen dazu, ihren täglichen Aufgaben nicht mehr nachkommen zu können. Das Denken dreht sich ständig um die Sucht. Die Faktoren von pathologischem Essverhalten sind analog zur Definition der Sucht: Abhängigkeit oder körperliche Gewöhnung, Dosissteigerung und Kontrollverlust.

Die Frequenz der Ess-Brech-Attacken bei Bulimie- oder der Heißhunger-Attacken bei Binge-Eating-Betroffenen steht in Zusammenhang mit Stress. Nimmt die psychische Belastung – etwa im Beruf – zu, kann häufig eine gesteigerte Frequenz des pathologischen Essverhaltens festgestellt werden.

Als Auslöser für eine Bulimie oder eine Binge-Eating-Disorder gelten u.a. Traumatisierungen wie Trennungsszenarien im Elternhaus oder aber auch Missbrauch. Jedoch sei hier Vorsicht angebracht, warnt Alexander Ahmad, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin in Eisenstadt. So muss eine Person, die an Anorexie leidet, nicht unbedingt ein Trauma-Opfer sein oder aus einem hoch pathologischen Elternhaus stammen. „Es kann ein Trauma die Ursache sein, eine Depression, eine Persönlichkeitsentwicklungssstörung oder aber auch eine solitäre, möglicherweise leichtere, weniger komplexe Verlaufsform, die keine über mehrere Jahre dauernde Behandlung braucht“, erklärt Ahmad.

Rezidiv durch Stress-Situationen

Auch bei Patienten, die jahrelang gut behandelt waren und keine komorbiden Symptome mehr aufweisen, können plötzliche Stress-Situationen ein Rezidiv der Esssucht bedingen. Auslöser dafür kann beispielsweise eine Lebenskrise, die schwere Erkrankung eines Kindes oder eine Scheidung sein, worauf in der Folge „wieder diese alten Muster auftreten“, so Ahmad.

Menschen, die an einer Esssucht leiden, erleben die Vorschriften, Kontrollen oder auch Einschränkungen in Bezug auf ihre Nahrungsaufnahme als massiven Eingriff in ihre Privatsphäre und Autonomie. Den Mut für eine Therapie finden viele Betroffene jedoch erst dann, wenn sie ein Problembewusstsein entwickeln und motiviert sind, ihre Esssucht zu ändern. Gibt sich jemand fünf Mal pro Monat einer Heißhungerattacke oder impulsiv einer Völlerei hin, gilt er laut den Kriterien des ICD-10 als krank, liegt die Anzahl der Essattacken hingegen darunter, als gesund. Diese Grenze zwischen Pathologie und Nicht-Pathologie müsse man „vielschichtiger“ sehen, wie Ahmad betont. Seiner Ansicht nach ist die Festlegung einer bestimmten Zahl von Heißhungerattacken „ungenügend“ und insgesamt „zu kurz gegriffen.“ Denn: „Letztlich geht es darum, was aus einem solchen Suchtverhalten resultiert. Führt es zu einer seelischen Belastung oder zu körperlichen Folgeerscheinungen – und wenn ja: inwiefern?“

Bulimie und Binge-Eating sind sehr häufig mit Rauchen und Alkohol assoziiert. Bei den psychiatrischen Komorbiditäten sind in erster Linie Depressionen und Angststörungen zu nennen. Sehr häufig liege auch ein Zusammenhang von Binge-Eating oder Bulimie mit Depression oder auch mit Alkoholismus vor, berichtet Winhofer-Stöckl aus der Praxis.

Orthorexie als Sucht

Auslöser des Suchtverhaltens bei Orthorexie ist das Bestreben, sich besonders gesund ernähren zu wollen. Die Betroffenen sind sehr streng bei der Auswahl von natürlichen und unveränderten Lebensmitteln. „Menschen mit Adipositas übertreiben extrem mit ‚gesunder Ernährung‘. Für sie steht nur nur bio, vegan und gesund im Mittelpunkt“, weiß Winhofer-Stöckl. Der Fokus auf gesunde Ernährung und auch die Idee dahinter wirkten am Anfang gut, jedoch „in Wahrheit sieht man die dahinterstehende Essstörung“. Auch hier kreisen die Gedanken rasch nur noch um die sogenannte gesunde Ernährung.

Binge-Eating und ADHS

Darüber hinaus gibt es eine gehäufte Assoziation beispielsweise von Binge-Eating und ADHS. Wie Ahmad erklärt, weisen beide als Komorbidität „gehäuft“ auch depressive Störungen auf. Und weiter: „Oft ist es so, dass primär nur die Essstörung oder die Depression gesehen wird, die Komorbiditäten nicht.“ Letztlich führe die Behandlung einer Störung meist konsekutiv zu einer Besserung der jeweils anderen Störung.

Bei der Abklärung der Esssucht und ihrer Komorbiditäten ist ein fachärztlich-psychiatrisches Gespräch die Grundlage, die dann in einem multimodalen Behandlungskonzept münden sollte. Dabei sei es notwendig, Komorbiditäten wie beispielsweise eine Depression, andere Suchterkrankungen oder mögliche Persönlichkeitsstörungen psychiatrisch, pharmakologisch und auch psychotherapeutisch zu behandeln, so Psychiater Ahmad.

Bei Patienten mit Adipositas und Übergewicht stehen Medikamente im Vordergrund, die in die Appetit-Regulation eingreifen wie zum Beispiel GLP1-Rezeptor-Agonisten. Es sei „absehbar“, dass die dualen Agonisten in den nächsten Jahren in den Vordergrund rücken, führt Winhofer-Stöckl aus. Und weiter: „Es gibt gute Daten, dass sie einen antidepressiven Effekt haben und wahrscheinlich besonders bei Binge- Eating-Disorder und Bulimie extrem gut wirken.“

Die Therapie-Dauer hängt von den Komorbiditäten und der Ausprägung der Erkrankung ab; ein konkreter Zeitrahmen für die Behandlungsdauer sei „nicht immer gleich absehbar“, so Ahmad. Suchterkrankungen und Essstörungen betreffen immer Familiensysteme. „Deswegen sollten sie nach Möglichkeit in die Behandlung einbezogen werden, weil ein unterstützendes Familiensystem in der Therapie hilfreich ist“, fasst Ahmad zusammen. Was seiner Ansicht nach besonders wichtig ist: „Wenn die Betroffenen ein gutes Setting, ein gutes Behandlungsteam im Hintergrund haben, dann schaffen sie wesentlich schneller den Ausstieg aus ihrer Esssucht.“


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