Medizin & Wissenschaft
Masern: Durchgehend Impflücken
Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Ein in den 1960er und 1970er Jahren eingesetzter Impfstoff, der keine lebenslange Immunität bietet, und die Umstellung des Impfplans in den 1990er Jahren sind die Hauptgründe für die Impflücken bei jungen Erwachsenen. Bei Kindern ist – Pandemie-bedingt – die ungenügende Durchimpfungsrate weiter gestiegen.
von Martin Schiller
Die Corona-Pandemie hat die in Österreich bereits bestehenden Impflücken bei der Masernimpfung vergrößert. „Schon in der Prä-Corona-Zeit war die Situation nicht optimal. Lockdowns und Beschränkungen des öffentlichen Lebens haben dann aber dazu geführt, dass notwendige Impfungen auch gegen andere impfpräventable Erkrankungen nicht in Anspruch genommen wurden“, sagt Univ. Prof. Ursula Wiedermann-Schmidt, Leiterin des Zentrums für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie an der Medizinischen Universität Wien. Die erste MMR-Teilimpfung habe vor der Pandemie zwar eine gute Akzeptanz aufgewiesen – die Impfquote lag bei fast 95 Prozent –, aber die zweite Teilimpfung wurde schon damals nur zu 85 bis 86 Prozent in Anspruch genommen, so die Angaben des ECDC (European Centre for Disease Prevention and Control).
Wie sind die aktuellen Zahlen über den Stand der Immunisierung? Im „Kurzbericht Masern 2021“ – herausgegeben vom Gesundheitsministerium – ist festgehalten, dass die Durchimpfungsrate bei Zweijährigen für die erste Teilimpfung bei 84 Prozent und für die zweite Teilimpfung bei nur 74 Prozent liegt. Im aktuellen Nationalen Impfplan wird eine Steigerung der Durchimpfungsraten bei der MMR-Impfung daher mit „hoher Priorität“ eingestuft. Die MMR-Impflücke betrifft jedoch nicht nur Kinder, wie Wiedermann-Schmidt betont: „Die von der WHO vorgegebene Durchimpfungsrate von 95 Prozent wird auch bei Erwachsenen nicht erreicht. Im Jahr 2021 haben nur 86 Prozent der 18- bis 30-Jährigen über einen vollständigen Impfschutz verfügt.“ Außerdem gebe es bei einzelnen Jahrgängen Auffälligkeiten. So weisen knapp acht Prozent der im Jahr 2010 Geborenen keinen Impfschutz gegen Masern auf.
Zu berücksichtigen sind auch Impflücken bei Personen, die Mitte bis Ende der 1990er Jahre geboren wurden. „Durch eine Umstellung des Impfplans vom Volksschul- auf das Kleinkindalter blieben einige Kinder damals ungeimpft. Ihr Anteil macht bis zu acht Prozent aus“, erklärt Wiedermann-Schmidt. In einigen Fällen wurde auch die zweite Impfung vergessen. Als vulnerable Gruppe ist dabei jene Generation einzustufen, bei der die erste Impfung in der Kindheit, die zweite aber erst in der Pubertät vorgesehen war. Ein weiteres Kollektiv mit ungenügendem Schutz sind Personen, die den inaktivierten Impfstoff Quinto Virelon erhalten haben. Dieser Impfstoff, der in 1960er und 1970er Jahren verabreicht wurde, bietet keine lebenslange Immunität. „Das wissen viele der damals Geimpften nicht. Eine Überprüfung des Eintrags im Impfpass ist daher empfehlenswert“, rät Wiedermann-Schmidt.
Zwei Ebenen eines Problems
Die Expertin sieht daher insgesamt zwei Ebenen des Problems: „Wir haben eine ungenügende Durchimpfungsrate bei Kindern und zu wenig Achtsamkeit für die Impflücken in der erwachsenen Bevölkerung.“ Die reduzierte Awareness für Impfungen abseits von COVID-19 würde ihr Übriges dazu beitragen. „Die WHO hat schon frühzeitig davor gewarnt, trotz pandemischer Einschränkungen nicht auf Impfungen zu vergessen. Die Auswirkungen dieser zusätzlich entstandenen Lücken werden nun immer mehr spürbar, da es wieder viel mehr persönliche Kontakte gibt.“ Ähnliches berichtet Priv. Doz. Lukas Weseslindtner vom Zentrum für Virologie der Medizinischen Universität Wien. Anfang 2020 hätte man noch Masernfälle registriert. Mit dem Anstieg der SARS-CoV-2-Infektionen und den dadurch bedingten globalen Maßnahmen sei die Zirkulation des Masernvirus jedoch „extrem eingebremst worden. Nachdem es jetzt aber keine Corona-Maßnahmen mehr gibt, gehen die Zahlen wieder nach oben“, konstatiert der Experte.
Besonders der Masernausbruch, der im Februar 2023 in der Steiermark registriert wurde, und ein „beunruhigendes Ausmaß“ (Weseslindtner) erreicht hat, zeige den Ernst der Situation ist. „Die Pandemie hat wohl auch die Impfmoral untergraben. Viele Eltern haben den Arztbesuch mit ihren Kindern aufgeschoben.“ Mittlerweile gäbe es auch Studien, die weltweit ein großes Ausmaß an MMR-Impflücken durch die Pandemie zeigten. Berücksichtigen müsse man auch spezifische Probleme in bestimmten Bevölkerungsgruppen. So könnten etwa Sprachbarrieren und soziokulturelle Aspekte zu Impflücken führen. „In ethnischen, religiösen oder gesellschaftlichen Gruppen kommt es jedenfalls oft auf „Opinion-Leader“ an. Der Bildungsgrad allein bestimmt dabei nicht, ob jemand ein Impfskeptiker ist“, konstatiert Weseslindtner.
Wie dramatisch die Auswirkungen von Masern sind, wurde in den vergangenen Jahren in Studien dokumentiert. „Das Masernvirus kann praktisch alle Zellen infizieren, auch immunologische Zellen wie zum Beispiel Monozyten, Makrophagen und Lymphozyten und hier im Speziellen die Gedächtniszellen“, erläutert Weseslindtner. Im Rahmen der Virusvermehrung gehen diese Zellen zugrunde. „Das bedeutet, das Masernvirus löscht das immunologische Gedächtnis. Man verliert damit auch Immunität, die man gegen andere Erkrankungen aufgebaut hat, auch einen beträchtlichen Teil der Antikörper, die man bereits besitzt“, führt der Experte weiter aus.
Um das Virus unter Kontrolle zu bringen, benötige der Organismus einen großen Teil des T- und B-Zell-Reservoirs. Dadurch sinkt die Diversität der vorhandenen Antikörper und die Wahrscheinlichkeit für andere Infektionen steigt. All dies lasse sich durch die Masernimpfung verhindern, deren Wirksamkeitsgrad sehr hoch sei, wie Weseslindtner betont: „Die Wahrscheinlichkeit der vollständigen Impfung liegt bei 95 Prozent, dass Immunität induziert wird. Hat eine Person jedoch nur eine der beiden erforderlichen Impfungen erhalten und das Virus zirkuliert sehr breit wie beim Geschehen in der Steiermark, dann können Impfdurchbrüche auftreten.“ (siehe unten)
Aktueller Masernausbruch
Im Februar dieses Jahres hat ein Reisender bei der Rückkehr nach Österreich das Masernvirus eingeschleppt. Bei der Teilnahme an einem internationalen sportlichen Wettkampf in Graz wurden andere Personen infiziert. Die infizierte Person, die das Virus nach Österreich eingeschleppt hat, hat kurz darauf an einer großen Hochzeit teilgenommen, bei der die meisten Gäste nicht über einen Masern-Impfschutz verfügten. Dabei infizierten sich 22 Personen, darunter auch Kinder. Diese haben das Virus in Ordinationen, Schulen und Kindergärten verbreitet. Sechs Kinder mussten in dieser ersten Welle aufgrund eines schweren Verlaufes hospitalisiert werden. Das Zentrum für Virologie in Wien identifizierte den Genotyp D8-5963. So konnten die Infektionswege nachvollzogen werden. Aktuell (Stand 5. April) wurden laut AGES insgesamt 104 Fälle registriert; davon 95 in der Steiermark, fünf in Oberösterreich, drei in Wien und einer in Kärnten. Die Genotypisierungen zeigten, dass alle Fälle in Kärnten und Oberösterreich mit dem Ausbruch in der Steiermark zusammenhängen. Für die Wiener Fälle gilt dies nur für zwei der drei Fälle. Beim dritten Fall handelte es sich um einen anderen Genotyp, der auch auf einem anderen Weg eingeschleppt wurde. Der Ausbruch ist mittlerweile in der sechsten Generation.
PCR für Diagnose notwendig
Weseslindtner betont, dass die Labordiagnose der Masern nicht so simpel ist, wie vielfach angenommen: „Eine Blutprobe, die negativ auf IgM-Antikörper ist, kann ein trügerisches Bild abliefern. Studien zeigen nämlich, dass die Sensitivität dieses Tests bei weitem nicht 100 Prozent erreicht, eher 70 bis 80 Prozent – auch wenn bereits ein makulopapulöses Exanthem vorliegt.“ Dies habe sich auch beim Masernausbruch in der Steiermark wieder gezeigt. Weseslindtner weiter: „Wir müssen die Pathophysiologie der Krankheit stärker berücksichtigen. Es ist eine PCR-Probe notwendig, um zu ermitteln, ob sich das Virus bereits im Körper verbreitet, bevor Antikörper gebildet werden.“
Ebenfalls eine Folge der Pandemie ist die gesteigerte Impfskepsis im Allgemeinen. „Die Thematik der SARS-CoV-2-Schutzimpfung hat sich auf die Compliance bei anderen Impfungen niedergeschlagen“, analysiert Wiedermann-Schmidt. Der Anteil der zum Impfen negativ eingestellten Personen liege mittlerweile bei rund 20 Prozent. „Wir müssen hier intensiv daran arbeiten und wieder Vertrauen aufbauen“, betont die Expertin. Dazu seien auch neue Kommunikationsformen und Tools notwendig. Wiedermann-Schmidt sieht hier „alle Institutionen in der Pflicht.“ Weseslindtner appelliert, jeden Patientenkontakt zu nützen, um eine Überprüfung des Masern-Impfstatus durchzuführen. Eine zentrale Aufgabe komme dabei auch den Schulärzten zu. Möglichkeiten sieht der Experte außerdem beim Facharzt für Gynäkologie und nennt ein Beispiel: „Wenn eine Frau schwanger geworden ist, geht sie unabhängig von ihrer sozioökonomischen Herkunft zum Arzt, auch wenn sie nicht krank ist. Das bietet die Chance, den Impfstatus zu checken. Auch wenn eine Masernimpfung in der Schwangerschaft nicht möglich ist, kann man immerhin eine fehlende Immunität aufdecken und bereits eine Impfung für die Zeit nach der Schwangerschaft einplanen.“
Bildquellen & Copyright
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 /25.04.2023
Freepik #m0iZ4Sk Urheber: CDC
Ganzen Artikel lesen