Medizin & Wissenschaft
Neuropathischer Schmerz: Antikonvulsiva statt Analgetika
Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Bis zu 60 Prozent aller Menschen mit neuropathischen Schmerzen werden nicht leitlinienkonform behandelt. Herpes zoster, Diabetes mellitus und Alkoholabusus sind die häufigsten Ursachen. Während Analgetika beim klassischen neuropathischen Schmerz nicht wirken, führen Antikonvulsiva bei 30 Prozent der Betroffenen zu einer 50-prozentigen Schmerzreduktion.
von Julia Fleiß
Sieben bis zehn Prozent der europäischen Bevölkerung leiden an neuropathischem Schmerz. Die Prävalenz für Österreich – einer Studie aus dem Jahr 2008 zufolge – beträgt auf der Basis von 7.707 Patienten 3,3 Prozent. „Zwischen 50 und 60 Prozent der Patienten mit neuropathischen Schmerzen werden falsch behandelt. Weniger als zehn Prozent der Patienten erhalten jene Medikamente, die nach Leitlinien empfohlen werden“, zitiert Priv. Doz. Nenad Mitrovic von der Abteilung für Neurologie im Salzkammergutklinikum in Vöcklabruck aus Studien.
Während zentral-neuropathische Schmerzen meist nach einer eindeutigen Ursache wie Insult, Gehirnblutung oder Multiple Sklerose entstehen, sind periphere neuropathische Schmerzen nicht sofort zuordenbar. „Der neuropathische Schmerz wird als brennend, schneidend oder elektrisierend und eher einschießend beschrieben“, erklärt Univ. Prof. Christian Lampl von der Abteilung für Neurologie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz. „Häufig kommt es zu Allodynie oder Hyperalgesie.“ Zu dieser Positivsymptomatik gesellen sich Hyperästhesie, Termhypästhesie oder Hypalgesie als negative Symptome. Betroffen sind eher die Extremitäten wie beim Bandscheibenvorfall, wobei etwa bei der Post-zoster-Neuropathie auch jede andere Körperregion schmerzen kann.
Drei Schritte zur Diagnose
Im Unterschied zum nozizeptiven Schmerz, der eine physiologische Reaktion auf einen Reiz ist, liegt dem neuropathischen Schmerz eine Läsion oder Erkrankung im Bereich des somatosensiblen Nervensystems zugrunde. Laut Mitrovic benötige man für die Diagnostik des neuropathischen Schmerzes Zeit für eine ausführliche Anamnese. Insbesondere gelte es, Folgendes zu beachten: „Die neuroanatomische Verbindung und die Schmerzausbreitung müssen zueinanderpassen. Der N. medianus verläuft entlang der ersten drei Finger bis zur Hälfte des vierten Fingers. Ist dieser Nerv beim Karpaltunnelsyndrom eingeklemmt, muss die Schmerzbeschreibung des Patienten in dieser Region sein.“ Ist ein Schmerz neuroanatomisch plausibel, handelt es sich im ersten Schritt um einen möglichen neuropathischen Schmerz.
Die Wahrscheinlichkeit für die Diagnose eines neuropathischen Schmerzes wird durch eine neurologische Prüfung bekräftigt: „Man untersucht den Patienten auf Schmerzempfindlichkeit und Hyperästhesie. Bei diabetischer Neuropathie treten die Empfindungsstörungen anfangs typischerweise sockenförmig auf“, konstatiert Mitrovic. Um die Diagnose „neuropathischer Schmerz“ zu sichern, ist der Nachweis mit Hilfe der apparativen Diagnostik wie Elektroneurographie, Magnetresonanztherapie oder Computertomographie erforderlich. „Erhält man einen pathologischen Befund, handelt es sich um einen gesicherten neuropathischen Schmerz“, sagt Mitrovic.
Die Experten empfehlen Screeningtools als Hilfestellung bei der richtigen Diagnose: Während der DN4-Fragebogen vom Arzt selbst durchgeführt und überprüft werden muss, kann der painDETECT vom Patienten im Warteraum selbst ausgefüllt werden. Beide Tools ergeben einen Score, der eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen vorliegenden neuropathischen Schmerz ergibt.
Screeningtool DN4-Fragebogen
Der DN4-Fragebogen weist eine Sensitivität und Spezifität von 80 Prozent auf. Beantworten Sie bitte die folgenden vier Fragen.
Befragung des Patienten
1. Weist der Schmerz eines oder mehrere der folgenden Merkmale auf?
Brennen Ja/Nein
Gefühl einer schmerzhaften Kälte Ja/Nein
Elektrische Schläge Ja/Nein
2. Treten die folgenden Beschwerden zusammen mit den Schmerzen im selben Körperbereich auf?
Kribbeln Ja/Nein
Pieksen Ja/Nein
Taubheitsgefühl Ja/Nein
Juckreiz Ja/Nein
Untersuchung des Patienten
3. Sind die Schmerzen in einem Bereich lokalisiert, in dem die körperliche Untersuchung Folgendes zeigt:
Hypoästhesie bei Berührung Ja/Nein
Hypoästhesie bei Nadelreizen Ja/Nein
4. Werden die Schmerzen ausgelöst oder verschlimmert durch:
Reiben Ja/Nein
Auswertung:
Ja: 1 Punkt
Nein: 0 Punkte
Ergebnis von ≥ 4: Neuropathischer Schmerz
Risikofaktoren und häufigste Ursachen
„Risikofaktoren für die Chronifizierung eines neuropathischen Schmerzes sind das weibliche Geschlecht, ein hohes Alter sowie eine inadäquate Akutbehandlung“, erklärt Lampl. Mitrovic erläutert dies am Beispiel Herpes zoster: „Behandelt man die Infektionskrankheit rechtzeitig antiviral, ist auch die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Post-zoster-Neuropathie geringer.“ Laut dem Experten steigt die Wahrscheinlichkeit, an Herpes zoster zu erkranken, im Alter von 80 Jahren auf 50 Prozent. 15 bis 20 Prozent aller Betroffenen entwickeln eine Post-zoster-Neuropathie. „Patienten über 60 Jahren sollte man die neue rekombinante Impfung Shingrix® anbieten, da man damit laut Studien neun von zehn Zoster-Infektionen verhindern kann.“ Ebenso zählen Diabetes mellitus und Alkoholabusus zu den häufigsten Ursachen für neuropathische Schmerzen: Rund 30 Prozent aller neuropathischen Schmerzen treten aufgrund von Diabetes mellitus auf. Jeder zweite Diabetiker leidet in einem späten Stadium der Krankheit an einer Form der Polyneuropathie. „Ist ein Diabetiker gut eingestellt, zeigen Studien ganz klar, dass Patienten weniger an Neuropathie leiden“, berichtet Mitrovic.
Behandlung: multimodal
Ist die Schmerzregion abgegrenzt, kann topische Therapie zum Erfolg führen. „Sowohl Lidocain-Pflaster als auch Capsaicin-Pflaster führen innerhalb kurzer Zeit dazu, dass der Schmerz abnimmt“, erklärt Mitrovic. Elektronenmikroskopisch ist nachweisbar, dass die Wirkstoffe zur Schädigung der Nervenfaserenden führen. Die Schmerzlinderung hält solange an, bis die Nervenfasern nach zwei bis drei Monaten wieder nachwachsen. Vor allem bei älteren Patienten, Multimorbiden und Menschen unter Polymedikation oder mit eingeschränkter Organfunktion empfiehlt es sich, primär die Lokaltherapie einzusetzen – auch aufgrund der geringen Nebenwirkungen.
Lampl ergänzt: „Analgetika wirken beim klassischen neuropathischen Schmerz nicht.“ Antikonvulsiva sind Therapie der ersten Wahl wie die Kalziumkanal-Blocker Gabapentin und Pregabalin, die bei Epilepsie eingesetzt werden. Mitrovic dazu: „Bei rund 30 Prozent der Patienten bewirken sie eine 50-prozentige Schmerzreduktion, was bei neuropathischem Schmerz ein Erfolg ist.“ Bei unter 65-Jährigen werden häufig zusätzlich Antidepressiva – vor allem Trizyklika – verabreicht. „Ganz wichtig ist es, die Patienten aufzuklären, warum man solche Medikamente verschreibt: Nicht weil man sie für depressiv hält, sondern weil die Präparate den Serotoninhaushalt des Körpers beeinflussen. Diese Serotoninbahnen sind schmerzhemmende Bahnen“, erklärt Lampl.
Auch Opioide kommen beim neuropathischen Schmerz zum Einsatz, vor allem, wenn ein rascher therapeutischer Effekt gefragt ist. Lampl betont, dass es sich bei den meisten Studien zum Einsatz von Opioiden bei peripheren neuropathischen Schmerzen um Kurzzeitanwendungen handelt. Sind alle Maßnahmen ausgeschöpft, kommen Cannabinoide als Add-on-Therapie in Frage. „In vielen Fällen erfolgt die medikamentöse Einstellung in der Schmerzambulanz beziehungsweise beim Facharzt“, erklärt Lampl.
Beide Experten halten es für unverzichtbar, die pharmakologische Therapie durch Physiotherapie, Sport und Psychotherapie zu ergänzen. Auch sei es – so Lampl – durchaus möglich, Ultraschall- oder CT-gezielte Nervenblockaden initial als Schmerztherapie einzusetzen.
Häufige Ursachen
- Diabetes mellitus
- Alkoholmissbrauch
- Vitamin B-Mangel
- Urämie
- Schadstoffe, Gifte und Medikamente
- Krebserkrankungen und Chemotherapie
- Autoimmunerkrankungen und Autoimmunreaktionen (Multiple Sklerose, Guillain-Barré-Syndrom)
- Herpes zoster
- Borreliose und andere Infektionen
- AIDS
- Trigeminusneuralgie
- Kompressions- und Engpass-Syndrome (Karpaltunnelsyndrom)
- Rückenschmerzen
- Phantomschmerz
- Komplexes regionales Schmerzsyndrom
Bildquellen & Copyright
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 /25.04.2023
Unsplash #8dvyPDYa35Q Urheber: Usman Yousaf
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