Medizin & Wissenschaft

Gesundheitsrisiko Hitze: Systemüberlastung

Lesezeit: 5 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Die im Alter veränderte Durstregulation und reduzierte Fähigkeit zur Abfuhr von Wärme stellen eine hohe Belastung des kardiovaskulären Systems im Rahmen von Hitzewellen dar. Ebenso werden bestehende psychische Probleme verstärkt; ganz generell steigt der psychische Druck und besonders bei jungen Menschen ist „Climate Anxiety“ ein Phänomen.

von Martin Schiller

Hitzelwellen bilden sich epidemiologisch in Form einer größeren Zahl an Hospitalisierungen aufgrund von kardiovaskulären und respiratorischen Beeinträchtigungen ab. Auch kommt es zu einer erhöhten akuten (Vor-)Sterblichkeit – besonders in der älteren Bevölkerung, wie Daten aus Deutschland verdeutlichen: Laut Expositions-Wirkungs-Kurven im Epidemiologischen Bulletin des Robert Koch-Instituts (23/2019) zeigt sich eine Erhöhung der Mortalität um einen zweistelligen Prozentbereich.

Die veränderte Durstregulation im höheren Alter erweist sich im Rahmen von Hitzewellen als äußerst gesundheitsgefährdend, wie Univ. Prof. Bernhard Iglseder, Leiter der Universitätsklinik für Geriatrie am Uniklinikum Salzburg, ausführt: „Das geringere Durstgefühl und der größere Verlust von Flüssigkeit und Elektrolyten über den Schweiß erhöhen das Risiko für eine Exsikkose.“ Die Folgen können kardiale Belastung, starke Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen und Krampfanfälle sein. Iglseder rät daher dazu, dass Patienten auch ohne bestehendes Durstgefühl zum Konsum von (alkoholfreien) Getränken animiert werden. Die Menge sei im Fall einer Herz- und Niereninsuffizienz sorgsam abzustimmen und „Mineralwasser bei diesen Patienten eine gute Option.“ Altersbedingte Veränderungen des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems verschärfen die Problematik. „Dadurch besteht eine Prädisposition für eine verstärkte Natriurese. Treten zusätzlich Erkrankungen auf, die mit einem erhöhten Flüssigkeitsverlust einhergehen wie zum Beispiel Infektionskrankheiten oder ein Harnwegsinfekt kann es kritisch werden“, betont Iglseder. Auch Dysphagien könnten dazu beitragen, dass der Betroffene weniger trinkt und ein älterer Mensch exsikkiert.

Risikofaktor Demenz

Ein Risikokollektiv in Hitzewellen sind auch Menschen, die an Demenz leiden. „Hier ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass diese Personen auf die Flüssigkeitszufuhr vergessen“, erklärt Iglseder. Assoz. Prof. Hans-Peter Hutter vom Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien gibt außerdem zu bedenken, „dass diese Patienten in bestimmten Stadien der Erkrankung Empfehlungen und Anweisungen, um sich vor Hitze zu schützen, nicht mehr folgen können.“

Neben älteren Menschen stellen Hitzewellen besonders für Säuglinge und Kinder eine gesundheitliche Gefahr dar, wie Hutter weiter ausführt. „Die Fähigkeit, Hitze abzuführen, ist bei ihnen noch nicht ausgereift.“ Bei Menschen mit Rückenmarksverletzungen wiederum sei zu bedenken, dass die Fähigkeit, zu schwitzen, vermindert oder gar nicht vorhanden ist. Generell zählen alle Personen mit Vorerkrankungen zum vulnerablen Kollektiv. Hutter verweist zusätzlich auf die Belastung durch Hitzearbeitsplätze und den Wohnort. So führen städtische Hitzeinseln (Urban Heat Islands, UHI), verursacht durch undurchlässige versiegelte Oberflächen, fehlende Begrünung und dichte Verbauung, zu deutlich höheren Tagestemperaturen und vor allem verringerter nächtlicher Abkühlung.

Risiko für Arrhythmien erhöht

Die negativen Effekte von Hitzeexposition auf das Herz-Kreislaufsystem sind wissenschaftlich dokumentiert. In einer Meta-Analyse aus 266 Studien (Lancet, 2022) zeigte sich, dass Hitzewellen das Risiko für die kardiovaskuläre Morbidität erhöhen und für einen signifikanten Anstieg des Risikos der kardiovaskulären Mortalität sorgen (plus 11,7 Prozent). Besonders gefährdet sind Frauen und Personen über 65 Jahre.

Die im Alter abnehmende Fähigkeit zur Abfuhr von Wärme stellt eine hohe kardiale Belastung dar. Thermaler Stress wurde bereits als Risikofaktor für kardiovaskuläre Dysfunktion und Herz-Rhythmus-Störungen ermittelt. Durch die Verringerung des Plasmavolumens aufgrund der Dehydrierung bei gleichzeitiger Erhöhung der Blutviskosität durch eine erhöhte Konzentration von Erythrozyten resultiert ein erhöhtes Risiko für Thromboembolien. Die durch die Hitze bedingte Vasodilatation der peripheren Blutgefäße senkt den systolischen Blutdruck und reduziert den koronaren Blutfluss, wodurch sich das Risiko für Arrhythmien und einen Herzstillstand erhöht.

Die Hitze-induzierte Erhöhung der Herzfrequenz und der kardialen Kontraktilität stellt einen weiteren Risikofaktor für kardiovaskuläre Beeinträchtigungen dar. Um Wärme abzuleiten, erweitern sich die Blutgefäße der Haut, was zu einem Sinken des Blutdrucks führen kann. Iglseder rät, den Blutdruck bei Personen, die an Hypertonie leiden, während Hitzewellen zwei- bis dreimal täglich zu messen, um einen etwaigen Blutdruckabfall zu ermitteln. „Werden die Zielwerte deutlich unterschritten, sollte eine Anpassung der antihypertensiven Medikation erfolgen. Besonderes Augenmerk gilt dabei jenen Patienten, die häufig unter orthostatisch-bedingtem Schwindel leiden und bei denen es immer wieder zu Präsynkopen kommt.“ Ein erhöhter Blutdruck macht ältere Menschen auch an Tagen, an denen normale Temperatur herrscht, anfälliger für eine orthostatische Dysregulation; die Hitze erweist sich dabei als zusätzlicher belastender Faktor. „Gibt es Vorerkrankungen, bei denen es zu Störungen des autonomen Nervensystems kommt, wie eine Polyneuropathie bei Diabetes mellitus oder im Rahmen eines Morbus Parkinson, können sich die Symptome nochmals massiv verstärken“, betont Iglseder. Er macht außerdem auf das erhöhte Risiko für eine Hitzestauung durch Beta-Blocker aufmerksam, „weil diese Arzneimittel die Vasodilatation der Haut verhindern“. (Details dazu siehe im Beitrag „Medikamenteneinnahme bei Hitzewellen: Interaktion mit Thermoregulation“, ÖÄZ 11 vom 10. Juni 2023).

Erhöhte Belastung durch Photooxidantien

Im Freien treten im Rahmen von Hitzewellen und bei hoher Sonneneinstrahlung vermehrt Photooxidantien auf, wie zum Beispiel troposphärisches Ozon. Dieses entsteht durch den UV-bedingten Zerfall von Stickstoffdioxid zu Stickstoffmonoxid und atomarem Sauerstoff, der sich mit Luft-Sauerstoff zu Ozon verbindet. Flüchtige organische Verbindungen wie Kohlenwasserstoffe ermöglichen eine Reaktion von Stickstoffmonoxid zu Stickstoffdioxid, woraus wiederum Ozon gebildet werden kann.

Reizungen der Schleimhäute und der Augen sowie Beeinträchtigungen des Lungengewebes und Kopfschmerzen können bei Exposition die Folge sein. Gefährdet sind nicht nur Personen mit respiratorischen Erkrankungen, sondern auch Kleinkinder. Sie weisen durch den erhöhten Sauerstoffbedarf ein im Verhältnis zum Körpergewicht größeres Atemminutenvolumen als Erwachsene auf und nehmen daher eine höhere Ozondosis auf. „Nicht nur vulnerable Personen, sondern alle Menschen sollten, wenn möglich bei Hitze mit körperlicher Anstrengung zurückhaltend sein“, mahnt Hutter. Und er ergänzt: „Hitze sollte man immer ernst nehmen, auch wenn man gesund ist.“ Vor allem Jugendliche und Männer setzten sich beim Freizeitsport noch häufig den heißen Temperaturen aus und belasten damit das Herz-Kreislaufsystem und – durch erhöhte Photooxidantienbelastung – die Lunge.

Iglseder macht auf die erhöhte Belastung von älteren Menschen, die an COPD leiden, aufmerksam: „Sie reagieren sensibler auf die Hitze, weil die gesamte Atemmechanik verändert ist.“ Je höher das Alter, umso ausgeprägter ist die Totraum-Ventilation, weil der knorpelige Thorax verknöchert. Dadurch nimmt die Elastizität der Brustwand ab. Außerdem sei im Alter das Lungengewebe bei COPD-Patienten „weniger elastisch, die Zilienaktivität reduziert und das gesamte respiratorische System insgesamt vulnerabler.“

Psychische Probleme verschärft

Hitze verursacht psychische Beeinträchtigungen und kann bestehende psychische Beschwerden verstärken. Daten zeigen laut Hutter bei Menschen mit bipolarer Störung eine Zunahme der Symptomschwere. Auch erhöhte Suizidraten werden während Hitzewellen registriert, wie aus Untersuchungen aus der nördlichen Hemisphäre hervorgeht. Auch beim Substanzmissbrauch – etwa bei Alkohol – kommt es im Rahmen von Hitzewellen zu einem Anstieg. Bei älteren und geschwächten Personen nehmen depressive Verstimmungen und Ängste zu. „Bei einem schlechten Allgemeinzustand ist die Hitze eine oft noch zusätzliche starke Belastung. Diese ist umso heftiger, wenn man sozial isoliert ist, alleine lebt und besorgt ist, wie man mit den nächsten heißen Tagen fertig werden soll.“, erklärt Hutter die Problematik. Iglseder verweist auf anticholinerge Nebenwirkungen von manchen Psychopharmaka wie etwa trizyklischen Antidepressiva: „Sie führen zur Hemmung der Schweißproduktion und beeinträchtigen dadurch den Temperaturhaushalt. Außerdem senken einige Antipsychotika und Antidepressiva den Blutdruck und können so eine bestehende Orthostaseproblematik verstärken.“

Ein weiteres Thema ist die Zunahme von Aggressionen. In der Literatur wird der sogenannte Long-Hot-Summer-Effekt beschrieben, mit dem die Häufigkeit von aggressivem Verhalten in Zusammenhang zur Temperatur gesetzt wird. „Aus epidemiologischen Arbeiten geht hervor, dass besonders die häusliche Gewalt zunimmt, aber auch die Kriminalität insgesamt“, führt Hutter aus.

Die Folgen von zunehmender Hitze werden der Ansicht von Hutter nach immer noch unterschätzt, „Es ist nicht nur der thermale Stress, der den Menschen zusetzt.“ Auch andere Themen wie die Gefahr von Waldbränden, Dürren mit Ernteausfällen und Probleme für die Energiewirtschaft durch sinkende Wasserstände rücken immer mehr in den Fokus. Die Folge sind Existenzängste bei den Menschen, die in diesen Bereichen tätig sind. „Auch der steigende psychische Druck mit allen medizinischen Folgen muss viel mehr als bisher berücksichtigt werden“, so das Fazit von Hutter.

Phänomen „Climate Anxiety“

Bei jungen Menschen wiederum sei „Climate Anxiety“ ein zunehmendes Phänomen. „Die drohenden gravierenden Veränderungen durch den Temperaturanstieg erzeugen ein Gefühl der Ohnmacht, weil man keine Chance sieht, als Einzelperson etwas an der Gesamtsituation zu verändern“, fasst Hutter die Entwicklung zusammen. Dies vermindere die Fähigkeit, sich an die Situation anzupassen. Langfristig könnten daraus mentale Probleme wie Angststörungen oder depressive Verstimmungen resultieren. Daraus ergebe sich laut dem Experten eine große Herausforderung für die Gesellschaft und letztlich für die Kinder- und Jugendpsychiatrie beziehungsweise für psychosoziale Dienste: „Die Ängste der sehr jungen Menschen müssen jedenfalls aufgegriffen werden.“

Hitzewelle: Kysely-Definition

Eine weltweit einheitliche Definition für eine Hitzewelle existiert nicht. In Europa hat man sich jedoch auf die Kysely-Definition verständigt. Demnach spricht man von einer Hitzewelle, wenn mindestens drei Tage lang eine Temperatur von 30 Grad Celsius überschritten wird, höchstens unterbrochen von einem Tag mit 25 bis 30 Grad, wobei die mittlere Maximaltemperatur in dieser Periode dennoch über 30 Grad liegt. Hutter ergänzt, dass in diesen Perioden die nächtliche Temperatur nicht unter 20 Grad absinkt mit der Konsequenz, dass die nächtliche Erholung fehlt. „Die Menschen kommen bereits von der Hitze ermüdet nach Hause, erholen sich im Schlaf nicht ausreichend und beginnen den Folgetag schon geschwächt. Das setzt sich fort und führt letztlich zu Erschöpfungszuständen.“ Kommt es vor dem Hochsommer nur zu einer kurzen Übergangszeit, verstärkt sich die Problematik in der ersten Hitzewelle, „weil der Organismus auch durch den abrupten Wechsel keine Zeit hatte, sich generell an hohe Temperaturen anzupassen und sich zu akklimatisieren“.


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 /15.07.2023
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