Medizin & Wissenschaft

Chronischer Schmerz: Bedrohlich und belastend

Lesezeit: 3 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Rund 25 Prozent der Österreicher leiden an chronischen Schmerzen, die länger als drei Monate dauern. Beim Mechanismus-basierten Ansatz der Schmerztherapie wird ein sensorischer Phänotyp einem pathophysiologischen Mechanismus zugeordnet. Auf diese Weise kann der Schmerz um bis zu 33 Prozent reduziert werden.

von Manuela‑C. Warscher

„Ich war bei diesem einen Arzt, der war für mich ein Highlight. Er konnte mir nicht helfen, aber er hat mich ernst genommen“ – von dieser Erfahrung habe ihm ein Schmerzpatient berichtet, erzählt Univ. Prof. Andreas Sandner-Kiesling von der Klinischen Abteilung für Spezielle Anästhesiologie, Schmerz und Intensivmedizin der Medizinischen Universität Graz. Ein Viertel der Österreicher – Frauen häufiger als Männer – leidet an chronischen Schmerzen, die länger als drei Monate anhalten. „Schmerz macht etwas aus einem Menschen. Er ist bedrohlich und belastend“, betont der Anästhesiologe. Daher sei eine Wartezeit von bis zu drei Monaten, bis ein Schmerz als chronisch eingestuft werde, zu lange. Tatsächlich vergehen aber bis zur korrekten Diagnose mehr als zwei Jahre und der Betroffene hatte im Schnitt sieben Arztkontakte pro Jahr. „Zu diesem Zeitpunkt steckt der Betroffene meist schon zu tief im Sumpf und erlebt von Schlafstörungen bis Arbeitslosigkeit alles. Vor allem aber hat er dann bereits jeglichen Selbstwert verloren“, so Sandner-Kiesling.

Obgleich vier von zehn Patienten an erheblichen Schmerzen leiden, die eine medikamentöse Behandlung erfordern, ist die Hälfte der Patienten mit der jeweiligen Therapie unzufrieden. Die Gründe ortet der Experte im „automatischen Prozess, der beim Arzt-Patienten-Kontakt abläuft und mit einer blitzartigen Diagnosestellung und einem reflektorischen Therapievorschlag“ einhergehe. Funktioniert diese und auch allfällige weitere Therapien nicht, ist der Patienten frustriert. „Es ist sinnvoller, sich bei der Behandlung auf jede einzelne Schmerzform und damit jeden Mechanismus isoliert zu konzentrieren und mit geeigneten Arznei mitteln oder Therapiemaßnahmen zu behandeln“, berichtet Sandner-Kiesling aus der Praxis. Bei diesem so genannten Mechanismus-basierten Ansatz geht man also davon aus, dass ein sensorischer Phänotyp einem pathophysiologischen Mechanismus zugeordnet werden kann, erklärt Sandner-Kiesling. Der Standardprozess zur Erhebung des individuellen Schmerzprofils beginnt bereits dann, wenn der Schmerzpatient die Ordination betritt. „Es ist nötig, auf die Art und Weise zu achten und darauf, wie der Patient auf mich wirkt.“ Im Zuge der Anamnese werden potentielle Red Flags (Nervenkompression, Fraktur, Entzündung, Tumor, Ischämie) abgeklärt, um allfällige Notfälle rasch an eine Klinik zu überweisen. Um die Pathophysiologie zu ergründen, sind die strukturierte Erhebung von Vorerkrankungen und Medikation einerseits sowie des Schmerzes (Lokalisation, Qualität, Intensität etc.) andererseits essentiell. „Daraus kann der Arzt auf die beteiligten anatomischen Strukturen rückschließen (Haut, Muskel, Knochen, Eingeweide, Nerv) unter Berücksichtigung, ob eine entzündliche Komponente mitbeteiligt ist.“ Und weiter: „Der behandelnde Arzt muss sich vor Augen halten, dass der Mischschmerz die Regel ist und nicht die Ausnahme. Ebenso ist nicht jeder Kreuzschmerz ein Bandscheibenvorfall“, so Sandner-Kiesling.

Fünf-Säulen-Modell als Basis

Ausgehend von den Erkenntnissen aus der Mechanismus-basierten Diagnostik wird das multimodale Therapiekonzept auf Basis des Fünf-Säulenmodells erarbeitet. Dieses umfasst:

 

1) Medikamentöse und komplementäre Therapien;

2) physiotherapeutische Behandlung und Maßnahmen;

3) Schulungen und Interventionen durch die Psy-Disziplinen;

4) Maßnahmen und Unterstützung im sozialen Bereich und

5) invasive Therapien.

„Damit lässt sich eine Schmerzreduktion von bis zu 33 Prozent erreichen“, so Sandner-Kiesling. Wie der Mechanismus-basierte Ansatz und das multimodale Therapiekonzept auch unter Zeitdruck in der Praxis angewendet werden können, verdeutlicht der Experte folgendermaßen: „Beim klassischen Ischias-Schmerz drückt Gewebe auf den Nerv, das Gewebe löst eine lokale Entzündung aus. Das heißt, die zwei relevanten Schmerzbausteine sind Nerv und Entzündung. Darauf baue ich ein Therapiekonzept auf. Dieses umfasst dann je ein Arzneimittel gegen die Entzündung und eines gegen den neuropathischen Schmerz.“ Ein anderes Beispiel: Bei einem Ulcus cruris venosum wiederum kommen die Strukturen „Haut, Muskulatur, Nerven, Entzündung“ zum Tragen. „Ich muss also alle vier Faktoren behandeln, wobei die Oberfläche das Harmloseste ist und Entzündungen mit NSAR/Coxibe, Kortison oder Antibiotika behandelt werden können.“

Wichtig sei das „Querdenken“: Bisweilen könne beim Akutschmerz auch Kälte hilfreich sein, während „beim chronischen Schmerz eines Ulcus Muskel, Knochen oder Nerv beteiligt ist, bei dem ich mit Opioiden wenig bis nichts analgetisch erreichen werde“. In diesem Fall ohne sich ein Griff in die „Trickkiste der Co-Analgetika“. Das WHO-Stufenschema sei heute überholt – so die Ansicht von Univ. Prof. Gottfried Locker von der Universitätsklinik für Innere Medizin I der Medizinischen Universität Wien. „Heute kommt man aber immer mehr von diesem Stufenschema ab, weil vor allem die Stufe Zwei mit den schwachen Opiaten wenig effektiv ist.“ Darüber hinaus schreckten viele Ärzte vor dem restriktiven Suchtmittelgesetz in Österreich zurück. Locker rät, im Notfall „schneller zu handeln und Opiate nicht bis zum Schluss aufzuheben“.

Auf einen Blick

1) Für eine effiziente kausale Schmerztherapie muss die individuelle        Schmerzursache ermittelt werden.
2) Mit Hilfe des Mechanismus-basierten Ansatzes wird ein sensorischer Phänotyp einem pathophysiologischen Mechanismus zugeordnet.
3) Die Pathophysiologie beruht auf der strukturierten Erhebung von Vorerkrankungen, Medikation und Schmerz (Lokalisation, Qualität…).
4) Der Mischschmerz ist die Regel – und nicht die Ausnahme.
5) Die multimodale Therapie basiert auf dem Fünf-Säulenmodell: medikamentöse Behandlung, Physiotherapie, Psy-Disziplinen, sozialer Bereich und invasive Maßnahmen.


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13–14 /15.07.2022
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