Medizin & Wissenschaft
Anorexie des Alterns: Malnutrition durch Isolation
Lesezeit: 3 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Die Anorexie des Alterns gilt als ein wesentlicher Faktor für Malnutrition. Die physiologischen Veränderungen ab dem 70. Lebensjahr erhöhen die Wahrscheinlichkeit für den Verlust von Appetit und den daraus resultierenden ungewollten Gewichtsverlust. Auch Einsamkeit und soziale Isolation spielen eine entscheidende Rolle.
von Martin Schiller
Mit der Anorexie des Alterns wird laut einer aktuellen Lancet-Publikation ein altersbezogener Gewichtsverlust beschrieben, der aus abnehmendem Appetit und sinkender Nahrungsaufnahme resultiert und als wesentlicher Faktor für Malnutrition eingestuft wird. Zu den physiologischen, nicht-inflammatorischen Auslösern zählen eine Abschwächung der sensorischen Funktionen, Dysphagie, Schwierigkeiten beim Kauen der Nahrung, Verlust an Muskelmasse und endokrine Veränderungen. Während die Produktion von Ghrelin sinkt, kommt es zur Akkumulation der Appetit-hemmenden Hormone Leptin, Cholezystokinin und GLP-1. Außerdem spielt eine beeinträchtigte Insulinwirkung eine bedeutende Rolle. Christian Jagsch, Leiter der Abteilung für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie am Landeskrankenhaus Graz II, definiert den Begriff für seine Fachrichtung strenger: „Aus psychiatrischer Sicht betrachtet sprechen wir dabei nur von der Anorexia nervosa, die im Alter reaktiviert werden kann“ (siehe Kasten). Was man unter anderem für das höhere Alter beobachten könne, sei ein ungewollter Gewichtsverlust als Folge von verschiedenen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen. Als Beispiel nennt Jagsch eine Depression, die meist Appetitlosigkeit mit sich bringt. Aber auch Demenzerkrankungen und psychotische Erkrankungen wie Schizophrenie gelten als Risikofaktoren.
Aus physiologischer Sicht steigt das Risiko für unbeabsichtigten Gewichtsverlust mit dem 70. Lebensjahr, wie Univ. Prof. Peter Fasching von der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie an der Klinik Ottakring in Wien erläutert: „Ab dem 60. bis 65. Lebensjahr nehmen katabole Vorgänge im Organismus zu und anabole Prozesse gehen zurück. Gewichtskurven zeigen daher tendentiell einen Verlust an Körpermasse.“ Somit gelte es, im Alter besonderes Augenmerk auf den Erhalt der Funktionalität des Organismus zu legen. Fasching rät dazu, bei älteren Patienten stets den Spontangewichtsverlauf zu beobachten. Ein unbeabsichtigter Verlust von fünf Kilogramm Körpergewicht innerhalb von drei Monaten oder von mehr als zehn Kilogramm in sechs Monaten seien Alarmsignale für eine beeinträchtigte Homöostase und/oder dauerhaft ungenügende Kalorienzufuhr. Jagsch nennt eine rasche Gewichtsabnahme, plötzlich auftretende Schwächezustände sowie Stürze, die dem Patienten zuvor nicht passiert sind, als Warnzeichen, die rasch abzuklären sind. Beide Experten empfehlen, in solchen Fällen nachzufragen: Berichtet der Patient selbst darüber, dass er weniger Nahrung aufnimmt? Schmeckt plötzlich das Lieblingsessen nicht mehr? Machen sich Angehörige bereits Sorgen über die geringe Nahrungsaufnahme? Dies sind „wichtige Fragen“ im Patientengespräch, betonten Fasching und Jagsch unisono.
Screening auf Malnutrition
Das am weitesten verbreitete Screening-Instrument für Malnutrition im Alter ist das MNA®-SF-Screening (Mini Nutritional Assessment-Short Form). Es umfasst sechs Parameter: Abnahme der Nahrungsaufnahme, Gewichtsverlust, Mobilität des Patienten, Stress und akute Erkrankungen, neuropsychologische Probleme, Body-Mass-Index (BMI) oder – wenn kein BMI vorliegt – die Messung des Wadenumfangs.
In den GLIM-Kriterien (Global Leadership Initiative on Malnutrition) ist ein zweistufiger Diagnose-Prozess bei Malnutrition vorgesehen. Zunächst erfolgt mit einem validierten Screening-Instrument eine Einstufung, ob ein Risiko für eine Mangelernährung vorliegt. Im zweiten Schritt wird die Diagnose anhand eines phänotypischen Kriteriums (ungewollter Gewichtsverlust, niedriger BMI, reduzierte Muskelmasse) und eines ätiologischen Kriteriums (verminderte Nahrungsaufnahme, Resorptionsstörung, Inflammation) gestellt. Eine moderate Mangelernährung liegt laut phänotypischen GLIM-Kriterien bei einem ungewollten Gewichtsverlust von mindestens fünf Prozent in den letzten sechs Monaten beziehungsweise von zehn bis 20 Prozent in mehr als zehn Monaten vor. Die schwere Malnutrition ist definiert als Abnahme von mehr als zehn Prozent in den vergangenen sechs Monaten beziehungsweise von mehr als 20 Prozent in mehr als sechs Monaten.
Jagsch empfiehlt bei Patienten mit unklarem Gewichtsverlust, die ein zurückgezogenes Verhalten aufweisen und traurig wirken, neben dem Screening auf Mangelernährung eine psychiatrische Exploration, um den Beginn einer allfälligen dementiellen Erkrankung oder Depression abzuklären. Auch könne geklärt werden, warum nur noch bestimmte Lebensmittel und Speisen und manches gar nicht mehr gegessen wird.
Eiweiß gegen katabole Prozesse
Die Anorexie des Alterns gilt als unabhängiger Risikofaktor für Morbidität und Mortalität. „Wirkt man katabolen Prozessen nicht durch ausreichende Kalorien- und Proteinzufuhr entgegen, sind Sarkopenie, Osteoporose und Frailty unvermeidlich“, sagt Fasching. Da die Eiweiß-Utilisation im Alter erniedrigt ist, muss eine höhere Proteinaufnahme als beim jungen Erwachsenen erfolgen, damit die fettfreie Körpermasse und physiologische Funktionen erhalten werden können
In den Leitlinien der European Society for Clinical Nutrition and Metabolism (ESPEN) wird für ältere Erwachsene die Aufnahme von einem Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag empfohlen; in anderen internationalen Leitlinien werden 0,8 bis 1,2 Gramm angegeben. Bei einer akuten oder chronischen Erkrankung sind in der Literatur 1,2 bis 1,5 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht als empfohlene tägliche Menge ausgewiesen. Um Malnutrition zu verhindern, sollten 30 Kilokalorien pro Kilogramm Körpergewicht aufgenommen werden, wobei auf große Variationen innerhalb des Kollektiv hingewiesen wird. „Die ausreichende Zufuhr von Kalorien und Eiweiß und auch Kohlenhydraten reicht allerdings nicht aus, um die Funktionalität des Organismus im Sinn von Muskelerhalt und Muskelkraft zu gewährleisten. Auch körperliches Training ist dazu erforderlich“, betont Fasching. Und er spricht sich für das Verabreichen von Zusatznahrung aus: „Protein-angereicherte Konzentrate mit unterschiedlichem Kaloriengehalt als ein- bis zweimal tägliche Ergänzung der Nahrung gewährleisten eine adäquate Kalorien- und Eiweißzufuhr.“ Besonders bei einer akuten Erkrankung sei Zusatznahrung eine gute Option, weil „bei vielen Patienten oft schon tagelang eine ungenügende Kalorienversorgung bestanden hat“, wie Fasching aus der Praxis weiß. Die EFFORT-Studie habe gezeigt, dass eine adäquat gesteuerte Ernährungstherapie mit Zusatznahrung im Krankenhaus sowohl die Hospitalisierung verkürzt als auch die Prognose für die Zeit nach der Entlassung verbessert.
Eine Überprüfung der Arzneimittel, die regelmäßig eingenommen werden, kann mögliche Auslöser von Appetitlosigkeit ermitteln, wie Fasching anhand einiger Beispiele erläutert: „So kann beispielsweise Metformin zu Geschmacks-veränderungen führen. Die Einnahme von neurotropen Substanzen wie Antidementiva und auch manche Antidepressiva führt zu einem reduzierten Speichelfluss und Mundtrockenheit, was sich appetitmindernd auswirken kann. Auch manche Analgetika sind appetitdämpfend.“ Jagsch ergänzt, dass auch Schmerzen je nach Lokalisation dazu führen können, dass weniger Nahrung konsumiert wird, wobei Schmerzen im Verdauungstrakt die größte Rolle spielen. „In manchen Fällen kann ein Schmerz so ausgeprägt sein, dass kaum noch Appetit vorhanden ist. Es liegt also eine depressive Anpassungsstörung vor“, führt Jagsch weiter aus. Manchmal werden Nebenwirkungen aber auch im positiven Sinn genutzt: „Fallweise werden Antidepressiva eingesetzt, die den Appetit steigern und somit eine Zunahme von Körpergewicht ermöglichen. Bei der Schmerztherapie wiederum steigern Dronabinol und Opiate den Appetit.“
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Reaktivierung der Anorexia nervosa
Beim Ausbruch einer Anorexia nervosa im Alter kann es sich auch um eine Reaktivierung handeln, erklärt Christian Jagsch: „Manche Patienten wurden in jungen Jahren erfolgreich behandelt und gut stabilisiert und die Krankheit schlummerte einige Jahrzehnte. Diese Personen sind im Lauf des Erwachsenenlebens oftmals sehr dünn, aber es kommt nicht zur Anorexie. Tritt aber im Alter ein Schicksalsschlag auf, wie etwa der Verlust des Partners oder wenn ein Kind stirbt, kann die Erkrankung reaktiviert werden.“ Allerdings – so Jagsch – handle es sich dabei um ein „nicht sehr häufiges“ Phänomen.
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Das Essverhalten bei einer Demenzerkrankung muss als Faktor für die Anorexie des Alterns ebenfalls berücksichtigt werden. „Bei den meisten Patienten funktioniert die spontane Aufrechterhaltung der Energie-Homöostase nicht mehr, weil die Betroffenen entweder auf die Nahrungsaufnahme vergessen oder sie keinen Appetit haben“, erklärt Fasching. Das Phänomen der Hyperphagie zeige sich bei Demenzpatienten nur selten. Prinzipiell sei höheres Alter mit einer schwindenden Lust auf Nahrungsaufnahme verbunden. Jagsch betont diesbezüglich den großen Einfluss von Einsamkeit und sozialer Isolation auf die Entstehung einer Malnutrition: „Wenn es dem Patienten nicht mehr möglich ist, selbst einzukaufen oder sich eine Mahlzeit zu organisieren und es keine Angehörigen gibt, die sich um die Organisation kümmern oder selbst Essen mitbringen, wird die Ernährung meist einseitig. Diese Menschen verlieren häufig an Gewicht und sind oft schlecht mit Nährstoffen versorgt.“ In diesen Fällen sei eine Vermittlung von extramuralen Diensten „notwendig“.
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