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Neurologischer Schwindel: Selten isoliert
Lesezeit: 5 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Die vestibuläre Migräne ist diejenige neurologische Erkrankung, bei der es am häufigsten zu spontan rezidivierenden Schwindelattacken kommt. Tritt der Schwindel akut in Kombination mit Nystagmus und Kopfschmerzen auf, handelt es sich um ein Warnsignal, das rasch neurologische Abklärung erfordert. Der sogenannte Altersschwindel hat multifaktorielle Gründe.
von Martin Schiller
Schwindel hat oft neurologische Erkrankungen oder Störungen als Ursache. Diesbezüglich am häufigsten bei spontan auftretenden rezidivierenden Schwindelepisoden ist die vestibuläre Migräne. „Diese Migräneform tritt vorwiegend bei jungen Erwachsenen auf“, berichtet Univ. Prof. Gerald Wiest von der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien. Kennzeichen sind wiederholte Episoden mit unterschiedlicher Kombination von Schwindel und Kopfschmerz mit Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit, Sehstörungen und Unsicherheiten beim Gehen. „Bei Frauen in der Menopause bilden sich die Kopfschmerz-Symptome oft zurück. In späteren Jahren können dann auch Schwindelepisoden ohne Kopfschmerz auftreten. Es scheint sich also der Phänotyp der Migräne zu ändern“, sagt Wiest.
Eine weitere häufige Form ist der durch eine Läsion des Gehirns bedingte zentrale Schwindel. Im Akutfall kann es sich um ein akutes zentral-vestibuläres Syndrom (akuter prolongierter Vertigo) handeln, bei dem die Betroffenen plötzlich unter Dreh- oder Schwankschwindel leiden und große Schwierigkeiten beim Gehen haben. Auslöser können Durchblutungsstörungen im posterioren Stromgebiet sein. Laut Wiest machen diese rund 20 Prozent der Schlaganfälle aus. Da sich circa zehn Prozent der Kleinhirninfarkte isoliert wie ein Gleichgewichtsausfall des Innenohrs manifestieren (Pseudoneuritis vestibularis), ist die Differenzierung in kurzer Zeit eine große Herausforderung. „Die Symptome sind ähnlich, da in beiden Fällen Nystagmus und Imbalance akut auftreten“, erklärt Wiest. Deshalb sei es notwendig, standardisierte neurologische Untersuchungsalgorithmen einzusetzen. Weitere Alarmzeichen für einen Schlaganfall sind begleitende Symptome wie Doppelbilder, Dysarthrien, Gleichgewichtsprobleme bereits im Sitzen, Koordinationsprobleme mit der Hand oder Störungen des Gehörs (ein- oder beidseitig). Auch Schmerzen im Nackenbereich müssten diesbezüglich abgeklärt werden. „Verletzungen der Vertebralarterie etwa können auch bei jungen Patienten zu Kleinhirninfarkten führen. Ein Gleichgewichtsausfall des Innenohrs geht nie mit Kopfschmerzen einher“, sagt Wiest. Akuter Schwindel mit Nystagmus und Kopfschmerzen sei daher stets ein Warnsignal und müsse neurologisch abgeklärt werden.
Um einen Spontan-Nystagmus zu erkennen, bewährt sich der Einsatz der Frenzelbrille, wie Wiest betont: „Es ist damit alleine zwar nicht sicher differenzbierbar, ob eine zentrale oder eine periphere Störung vorliegt, aber eine vestibuläre Störung kann nur mit Hilfe der Frenzelbrille festgestellt werden.“
Indikationen für Antivertiginosa
Patienten mit starkem prolongiertem Drehschwindel, Übelkeit, Erbrechen und Problemen, die Augen zu öffnen, profitieren laut Wiest von der Einnahme von Antivertiginosa nach folgendem Schema:
- Zwei bis viermal täglich 50 mg Dimenhydrinat oral;
- in der Akutphase bei massivem Erbrechen beträgt die Maximaldosis 400 mg Dimenhydrinat i.v., eventuell kombiniert mit Antiemetika; Mittel der Wahl ist Ondansetron (vier bis acht Milligramm i.v. pro Tag).
Der Einsatz von Ondansetron ist laut neueren Studienergebnissen auch bei vestibulärer Migräne sinnvoll, berichtet Wiest. Er schränkt aber ein: „Bei peripherem Vestibularisausfall sollten Ondansetron und Antivertiginosa nicht länger als drei Tage verabreicht werden, weil die Patienten sonst schlecht wieder adaptieren. Normalerweise kommt es zentral-vestibulär und periphervestibulär im Kleinhirn zu Kompensationsprozessen. Dieser Erholungsprozess würde aber durch eine längere Gabe verzögert.“ Als weitere kurzzeitige Option bei akutem Vertigo nennt er Benzodiazepine: „Die dämpfende Wirkung hilft dem Patienten, den akuten Schwindel besser zu ertragen.“ Bei benignem paroxysmalen Lagerungsschwindel verschreibt Wiest seinen Patienten bei Bedarf auch Dimenhydrinat, um das Gleichgewichtsorgan bei den erforderlichen Übungen zu dämpfen. „Damit können die Übungen zu Hause auch besser toleriert werden.“
Zurückhaltend bei der Verschreibung von Antivertiginosa bei älteren Patienten zeigt sich Univ. Prof. Bernhard Iglseder von der Universitätsklinik für Geriatrie am Uniklinikum Salzburg: „Anticholinerge Substanzen können zu einer Beeinträchtigung der Kognition beitragen. Die Gabe dieser Arzneimittel sollte nur kurzfristig erfolgen, etwa bei starkem Schwindel im Rahmen eines Vestibularis-Ausfalls.“ Beide Experten heben den Stellenwert von Gleichgewichtstrainings hervor – speziell bei älteren Patienten mit Schwindel. Iglseder dazu: „Ein Gleichgewichtstraining ist vor allem bei zentral-vestibulären und peripher-neurologisch geprägten Schwindelformen hilfreich. Damit werden auch muskuläre Fähigkeiten geschult, was sich wiederum positiv auf das Sturzrisiko auswirkt.“
Die Schwindelanfälligkeit erhöht sich im Alter – vor allem ab der siebenten bis achten Lebensdekade – aufgrund von bestimmten physiologischen Veränderungen. „Dies ist vor allem durch eine Abnahme der Nervenleitgeschwindigkeit, eine abnehmende Propriozeption und durch Veränderungen des sensorischen Epithels im Vestibularorgan bedingt“, sagt Iglseder. Bereits ab dem 40. Lebensjahr kommt es zur Abnahme der Neuronenzahl in den Vestibulariskernen um rund drei Prozent pro Dekade. Auch die Reduktion der absoluten Muskelmasse und Muskelkraft spielt eine Rolle, da sie sich auf das dynamische Gleichgewicht auswirkt, das normalerweise für den Ausgleich von Gleichgewichtsschwankungen verantwortlich ist. Außerdem können Veränderungen im Gefäßsystem das Risiko für Schwindel erhöhen, wie Iglseder erklärt: „Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer verminderten Sensibilität der Barorezeptoren, der Vagotonus steigt und eine inadäquate Katecholaminsekretion in Orthostase führt zu einer verminderten Kompensationsfähigkeit.“ Durch die Alterung des optischen Systems könne sich die Symptomatik verstärken, weil diese Faktoren nicht mehr visuell kompensiert werden könnten. Altersschwindel sei aus den genannten Gründen meist als multifaktoriell einzustufen. Häufig treten auch der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, zentral vestibuläre Schwindelformen mit Veränderungen der Vestibulariskerngebiete sowie kardial geprägte Schwindelformen im Alter auf. Außerdem müsse laut Iglseder an die im Alter häufiger auftretende Polyneuropathie als Auslöser gedacht werden: „Sie führt vor allem zu Gangunsicherheit und Schwankschwindel.“
Die vestibuläre Paroxysmie ist als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben. Dabei kommt es mehrmals pro Tag zu kurzen Schwindelattacken, die auch im Sitzen auftreten können. „Auslöser ist ein neurovaskulärer Konflikt wie zum Beispiel eine Kompression oder ein Kontakt des Nervus vestibularis durch eine AICA-Schlinge “, erklärt Wiest. Die Therapie erfolgt mit Carbamazepin. Durch dessen Wirkung auf die Natriumkanäle kann das Membranpotential am Nerv stabilisiert werden.
Ein häufiger Schwindel, mit dem Patienten in Spezialambulanzen kommen, ist der somatoforme Schwindel. Dabei handelt es sich um einen funktionellen Schwindel ohne organisches Korrelat oder um eine Folgeerscheinung nach einer voran gegangenen organischen vestibulären Erkrankung. Wiest dazu: „Die vestibuläre Diagnostik ist in diesen Fällen unauffällig“. Man spricht von einer Persistent Postural-Perceptual Dizziness (PPPD); die frühere Bezeichnung lautete phobischer Schwankschwindel. „Die Behandlung erfolgt meist mit SSRI. Es kommt aber auch Balancetraining zum Einsatz“, sagt Wiest und ergänzt: „Vor dieser Diagnosestellung ist jedoch eine zentral-vestibuläre und peripher-vestibuläre Diagnostik erforderlich.“ Auch Exsikkose kann Ursache für einen Schwindel sein. „Im Alter erhöht sich die Diskrepanz zwischen Systole und Diastole. Fehlt es durch Exsikkose an Volumen, beeinträchtigt dies die Kompensationsfähigkeit. Daraus kann dann Schwindel resultieren“, erklärt Iglseder.
Arzneimittel als Auslöser
Schwindel ist als Nebenwirkung bei zahlreichen Arzneimitteln möglich – Iglseder hebt drei Gruppen hervor: „Antidepressiva, Antipsychotika und Tranquillantien dämpfen zerebrale Übertragungssysteme und erhöhen damit das Schwindelrisiko. Tranquillizer dämpfen außerdem den Muskeltonus, was zu einer Reduktion der Reaktionsfähigkeit beiträgt.“ Ein weiterer Schwindel-auslösender Faktor kann Hyponatriämie sein. Sie wird durch die Einnahme von SSRI begünstigt, weil diese durch ihre Wirkung auf das antidiuretische Hormon freies Körperwasser retinieren.
„Da die Niere im Alter ohnehin weniger Natrium rückresorbiert, kann die Einnahme von SSRI – etwa gegen Altersdepressionen – das Schwindel- und Sturzrisiko deutlich erhöhen. Auch die Kombination von Thiazid-Diuretika mit SSRI kann zu Schwindel führen“, sagt Iglseder und verweist darauf, dass auch SNRI eine Hyponatriämie auslösen können.
Ein Grund für Schwindel könnte auch die Überdosierung von Antihypertensiva sein, wie Iglseder ausführt: „Das kann bei Patienten, die bis zum 80. oder 85. Lebensjahr gut eingestellt waren, der Fall sein. In diesem Alter fällt der Blutdruck dann aber oftmals ab und der Patient ist dann überbehandelt, woraus sich Schwindelsymptome ergeben können.“ Für die Abklärung rät der Experte zu einer Orthostase-Blutdruckmessung: „Der Patient liegt zunächst zehn Minuten. Fällt die Systole nach dem Aufstehen um mehr als 20 mmHg und die Diastole um zehn bis 15 mmHg, dann kann man darüber nachdenken, die Blutdruckmedikation zu lockern.“
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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 /25.05.2023
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