Medizin & Wissenschaft
Lyme-Borreliose: Saugzeit entscheidet
Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
In der nördlichen Hemisphäre ist Lyme-Borreliose die häufigste durch Zecken übertragene Erkrankung. In Österreich sind jährlich bis zu 80.000 Menschen davon betroffen. Jede fünfte Zecke ist mit Borrelien infiziert. Entscheidender Faktor für eine Infektion ist die Saugzeit.
von Martin Schiller
Rund 20 Prozent der Zecken hierzulande sind mit Borrelien infiziert. Der Manifestationsindex nach einem Zeckenstich liegt zwischen zwei und vier Prozent“, sagt Univ. Doz. Robert Müllegger von der Abteilung für Dermatologie und Venerologie am Landesklinikum Wiener Neustadt. Ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung einer Infektion ist die Saugzeit, wie Univ. Prof. Stefan Winkler von der Klinischen Abteilung für Infektionen und Tropenmedizin an der Medizinischen Universität Wien berichtet: „Über 70 Prozent der Borrelien werden von Zecken übertragen, die mehr als 24 Stunden gesaugt haben. Das zeigen Studien aus Österreich und Slowenien sehr deutlich.“
In mehr als 80 Prozent der Fälle manifestiert sich die Lyme-Borreliose zunächst kutan in Form des Erythema migrans. Zwischen dem Zeckenstich und dem Erstauftreten des Erythems liegen typischerweise drei bis 30 Tage. „Es handelt sich um ein nicht erhabenes Erythem, dessen Rand relativ gut abgegrenzt ist. Manchmal bestehen aufgehellte Stellen innerhalb des Ringes. Der Durchmesser beträgt mindestens fünf Zentimeter. Die Einstichstelle im Zentrum ist meist gut sichtbar“, beschreibt Winkler die typischen Merkmale. Bei rund 25 Prozent der Betroffenen kommt es zusätzlich zu Symptomen eines grippalen Infekts wie Fieber, Gelenkschmerzen und Kopfschmerzen.
In manchen Fällen übersieht der Patient das Erythem – wenn es sich beispielsweise am Gesäß oder am Rücken befindet. „Das bedeutet jedoch nicht, dass das Erythema migrans zwingend in eine andere Organ-Manifestation übergeht“, erklärt Müllegger. Das Immunsystem könne Borrelien sogar ziemlich suffizient spontan eliminieren. Ohne Behandlung kommt es nach Aussage des Experten in 20 bis 30 Prozent der Fälle zu einer anderen Organ-Manifestation. In der Folge kann es zur Neuroborreliose, Lyme-Karditis oder Lyme-Arthritis kommen. Der Großteil der kutanen, neurologischen und kardiologischen Manifestationen kann mit Antibiotika sehr gut behandelt werden und ist reversibel. Bei der Lyme-Arthritis kommt es in circa zehn Prozent der Fälle zu einer Chronifizierung. Eine irreversible Kardiomyopathie ist äußerst selten.
Mittel der ersten Wahl bei der Behandlung der Borreliose ist Doxycyclin: zweimal täglich 100 mg oder einmal täglich 200 mg. Auch für Amoxicillin existiert Ia Evidenz mit einer empfohlenen Dosierung von dreimal täglich 500 bis 1.000 mg. Alternativen sind Azithromycin und Cefuroxim. Müllegger weist auf die spezifischen Vorteile von Doxycyclin hin: „Doxycyclin passiert die Blut-Hirn-Schranke besser als andere Antibiotika. Es kommt nicht selten vor, dass es bereits im Rahmen einer Hautmanifestation zu einer Dissemination der Erreger in das Zentralnervensystem kommt, ohne dass man es klinisch bemerkt. Hier erweist sich die Gabe eines Antibiotikums, das die Blut-Hirn-Schranke gut passiert, als sehr günstig.“ Außerdem wirke Doxycyclin auch gegen andere Zecken-übertragende Erreger wie Anaplasmen, was bei Beta-Lactam-Antibiotika nicht der Fall ist. Amoxicillin wiederum sei eine gute Wahl, wenn ein Patient während der Einnahme vermehrt dem Sonnenlicht ausgesetzt ist: „Doxycyclin führt zu einer gesteigerten Empfindlichkeit gegen Sonnenlicht. Ist ein Patient beruflich exponiert oder steht ein Urlaub mit UV-Licht-Exposition bevor, ist Amoxicillin die bessere Wahl“, erläutert Müllegger.
Sowohl bei Doxycyclin als auch bei Amoxicillin liegt die empfohlene Einnahmedauer bei zehn bis 14 Tagen, wobei laut Winkler die Tendenz zu einem kürzeren Zeitraum gehe: „In einer slowenischen Publikation aus dem Herbst 2022 zeigte sich für eine einwöchige Einnahme von Doxycyclin eine gleichwertige Wirkung wie bei Anwendung über einen Zeitraum von 14 Tagen. Fest steht auch, dass man nicht länger als zwei Wochen behandeln sollte.“
Keine Blutuntersuchung angezeigt
Bei einem Erythema migrans ist keine Blutuntersuchung angezeigt, betonen beide Experten. „Eine serologische Bestimmung in diesem Stadium würde in den meisten Fällen zu falsch negativen Ergebnissen führen, weil noch keine Serokonversion stattgefunden hat. Es dauert rund 14 Tage, bis man eine Antikörperantwort nachweisen kann“, erklärt Müllegger. Auch bei einer nicht eindeutigen klinischen Symptomatik sei eine Blutuntersuchung bei Erythemen nicht sinnvoll. „Dabei kann es zu falsch-positiven Ergebnissen kommen, denn rund 20 Prozent der Bevölkerung sind durch frühere Zeckenstiche seropositiv. Daraus ergibt sich aber kein Krankheitswert und die Ursache für das Erythem wäre damit nicht geklärt“, so Müllegger. Winkler ergänzt: „Man muss den Betroffenen genau aufklären, weshalb auf eine Blutuntersuchung verzichtet wird. Damit verhindert man, dass ein Patient irritiert ist, wenn die Klinik nicht mit seinem positiven Blutbefund übereinstimmt.“
Bei anderen Organmanifestationen ist eine Antikörperbestimmung angezeigt. Winkler erklärt die Vorgangsweise bei einer neurologischen Manifestation: „Nach Statuserhebung wird der Liquor auf Antikörper gegen Borrelien untersucht und diese mit den Antikörpern im Blut verglichen.“ Dabei wird der daraus resultieren de Borrelien-Antikörper-IGG Index (BORGI) als Standard-Diagnose herangezogen. Darüber hinaus stehe mit dem Chemokin CXCL13 aus dem Liquor ein weiterer Marker für eine akute Neuroborreliose zur Verfügung. „Dieser Marker wird etwas früher positiv als BORGI und fällt durch die entsprechende Behandlung schneller wieder ab“, berichtet Winkler.
Die beste präventive Maßnahme ist die Untersuchung auf Zeckenstiche nach einem Aufenthalt im Freien. „Da viele Übertragungen durch das Vorstadium Nymphe erfolgen, die mit 1,5 Millimeter Größe sehr klein und außerdem durchsichtig sind, können sie dem Auge leicht entgehen“, sagt Müllegger. Es sei daher notwendig, den Körper sehr gründlich abzusuchen. Winkler ortet Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung, was die Entfernung von Zecken anlangt: „Ob diese mit oder gegen den Uhrzeigersinn stattfindet, ist unerheblich. Wichtiger ist vielmehr, die Zecke gut zu fassen. Man sollte mit der Pinzette oder Zeckenzange etwas unter den Kopf der Zecke kommen, um wirklich alles entfernen zu können.“
Antibiotika-Prophylaxe nach Zeckenstich?
In den USA wird nach Zeckenstichen fallweise die einmalige Einnahme von 200 mg Doxycyclin prophylaktisch verordnet. In Europa steht man dieser Vorgangsweise aber ablehnend gegenüber, wie Müllegger ausführt: „Aktuell gibt es sechs Studien dazu, wovon die größte allerdings methodisch unzulänglich war. Aus den bisherigen Studien lässt sich zwar eine gewisse Evidenz für die Wirkung der prophylaktischen Einnahme ableiten, diese ist aber nicht sehr hoch.“
In den vorliegenden Studien wurde untersucht, ob nach dem Zeckenstich und der Einnahme von Doxycyclin ein Erythema migrans entsteht. Ergebnis: Es kam seltener zu einem Erythem als in den Vergleichsgruppen. Müllegger schränkt jedoch ein: „Man hat nicht nachverfolgt, ob es zu einem späteren Zeitpunkt zu anderen Manifestationen gekommen ist.“ Außerdem erzeuge auch eine einmalige Einnahme des Antibiotikums bei einigen Patienten Nebenwirkungen. Das gelte es auch vor dem Hintergrund zu bedenken, dass manche Menschen mehrere Zeckenstiche pro Jahr erleiden. Weiters stelle sich die Frage der Praktikabilität bei der Verschreibung, da einzelne Tabletten nicht verfügbar sind. Sinn ergebe die Einnahme auch nur in Gebieten, in denen die Lyme-Borreliose endemisch ist und dann wiederum sei die Anhaftungszeit zu berücksichtigen. „Doch wer weiß wirklich, wann der Stich erfolgt ist“, stellt Müllegger zur Diskussion.
Um routinemäßig eine Antibiotika-Prophylaxe nach einem Zeckenstich durchzuführen, „bräuchte es dazu noch eine größere Studie“, schränkt Müllegger ein. Ebenso werde auch die prophylaktische Anwendung von antibiotischen Salben derzeit nicht empfohlen.
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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 /10.02.2023
Unsplash #57VQMbQme14 Urheber: Erik Karits on Unsplash
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