Medizin & Wissenschaft
Metabolisches Syndrom: Der Anti-Stress-Effekt
Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Ungünstiges Schlafverhalten sowie die Störung von zirkadianen Ruhe- und Aktivitätsrhythmen tragen auch – neben Hypertonie, Adipositas, Störungen im Fettstoffwechsel u.a. – zur Entwicklung eines metabolischen Syndroms bei. Zusätzlich zur Therapie dieser Erkrankungen hat der Anti-Stress-Effekt von regelmäßiger körperlicher Bewegung zentrale Bedeutung.
von Martin Schiller
Schätzungsweise 20 bis 40 Prozent der Bevölkerung erfüllen die Kriterien für ein metabolisches Syndrom. „Bei Vorliegen von stammbetontem Übergewicht, Hypertonie, einer Fettstoffwechselstörung und einer gestörten Glukosetoleranz sollte man an ein metabolisches Syndrom denken und der Patient diesbezüglich auch behandelt und beraten werden“, sagt Univ. Prof. Friedrich Hoppichler von der Abteilung für Innere Medizin am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Salzburg. Mindestens drei der folgenden fünf Kriterien müssen laut Definition der American Heart Association (AHA) zutreffen, damit die Diagnose gestellt werden kann:
- Taillenumfang > 102 Zentimeter bei Männern und > 88 Zentimeter bei Frauen
- Triglyceride nüchtern ≥ 150 mg/dl
- HDL-Cholesterin < 40 mg/dl bei Männern und > 50 mg/dl bei Frauen
- systolischer Blutdruck ≥ 130 mmHg oder diastolischer Blutdruck ≥ 85 mmHg
- Nüchternblutglukose ≥ 100 mg/dl oder medikamentöse Therapie aufgrund von erhöhtem Blutzucker
Die Komponenten des metabolischen Syndroms wirken sich direkt auf das Risiko für Atherosklerose und Typ-2‑Diabetes aus. Als prädominante Risikofaktoren werden abdominales Übergewicht, Insulinresistenz, körperliche Inaktivität, höheres Alter, hormonelle Imbalancen und eine atherogene Kost (fettreich, stark cholesterinhältig) definiert.
Risikofaktor Schlafapnoe
50 bis 60 Prozent der Patienten mit einem metabolischen Syndrom leiden auch am obstruktiven Schlafapnoe-Syndrom (OSAS). „Abdominale Adipositas ist der gemeinsame Risikofaktor“, erklärt Hoppichler. Und weiter: „Sie prädisponiert für ein obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, da die Fettinfiltration im Halsbereich zu einem Kollaps der oberen Atemwege führt und den Druck im Bauchraum erhöht, was durch den erhöhten Zwerchfellhochstand aufgrund der der intraabdominellen Adipositas wiederum zur Verringerung des Lungenvolumens führt. Die unmittelbaren Folgen sind intermittierende Hypoxie und fragmentierter Schlaf.“ Die Auswirkungen von zu wenig Schlaf wurden in einer Meta-Analyse aus 18 Studien (n = 75.657) dokumentiert. Demnach wurde kurzer Schlaf von weniger als sechs Stunden pro Nacht mit einer Odds ratio von 1,23 – angepasst an Alter, Geschlecht, Rauchen und Alkoholkonsum – mit dem metabolischen Syndrom in Verbindung gebracht. Bei einer Schlafdauer von mehr als neun Stunden zeigte sich kein Zusammenhang.
Abgesehen von kardiometabolischen Erkrankungen, die mit dem metabolischen Syndrom assoziiert sind, zeigten sich in Studien Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für bestimmte Karzinome. Die Analyse der Daten von 366.000 Personen aus der United Kingdom Biobank zeigt, dass das metabolische Syndrom mit einem erhöhten Risiko für kolorektales/rektales Karzinom, hepatozelluläres Karzinom und Pankreaskarzinom bei Frauen sowie für das Adenokarzinom des Ösophagus bei Männern assoziiert sein kann. „Die Daten unterstreichen einmal mehr die Bedeutung einer guten metabolischen Gesundheit, um das Risiko von gastrointestinalen Tumoren zu reduzieren“, betont Hoppichler. Der mögliche Mechanismus dabei: die Beeinflussung der gastrointestinalen Neoplasie durch chronische Adipositas-assoziierte Inflammation durch Zytokine, Hyperglykämie und Hyperinsulinämie. „Viszerales Fettgewebe produziert beispielsweise Adipokine, die die Apoptose hemmen und gleichzeitig die Zellproliferation fördern können. Außerdem steht ein hoher Insulinspiegel im Verdacht, die Proliferation von Zellen und wahrscheinlich auch bereits entarteter Zellen zu stimulieren“, erklärt Hoppichler.
Auch sexuelle Funktionsstörungen können durch das metabolische Syndrom ausgelöst werden. Die derzeitigen Erkenntnisse belegen einen Zusammenhang zwischen sexueller Dysfunktion und Adipositas-assoziierten Faktoren wie verminderte Insulinsensitivität, Dyslipidämie, Hypertonus sowie veränderten Östrogen- oder Testosteronspiegeln. „Da es sich bei Testosteron um ein fettlösliches Molekül handelt, kann die Hypothese aufgestellt werden, dass es wahrscheinlich in Fett-Depots gespeichert wird, was bei Fettleibigkeit zu geringeren zirkulierenden Konzentrationen führen kann“, so Hoppichler. Subkutane Fettzellen von Männern mit Adipositas zeigten jedenfalls höhere Konzentrationen an intrazellulärem Testosteron als jene von schlanken Männern.
Lebensstilfaktoren entscheidend
Lebensstilmodifikationen sind eine wesentliche Säule, damit Risikofaktoren nicht tragend werden sowie bei der Therapie der Definitionskriterien. „Ein wichtiger Aspekt ist es, den Patienten in Bewegung zu bringen“, sagt dazu Univ. Prof. Hermann Toplak von der Grazer Universitätsklinik für Innere Medizin. Und er führt weiter aus: „Sport und Bewegung wirken der Hyperinsulinämie entgegen und senken den Distress. Gerade letzterer ist oft für eine mangelnde Appetitkontrolle verantwortlich. Mit dem Anti-Stress-Effekt der regelmäßigen körperlichen Betätigung gelingt es daher meist auch, das Essverhalten zu optimieren.“ Mit dem Finger zu zeigen, würde dabei nicht den gewünschten Effekt erzielen. „Ich erkläre meinen Patienten nicht, was falsch an ihrem Lebensstil ist, sondern versuche, zu vermitteln, wie wichtig es ist, nicht im Stress zu essen und wieviel Freude man an Bewegung empfinden kann. Das Wissen über einen gesundheitsbewussten Lebensstil ist vorhanden, aber psychosoziale Stressoren verhindern oft die Umsetzung.“ Bei der Umstellung der Ernährungsweise setzt Toplak auf Ernährungsprotokolle sowie auf bewusste Ernährung statt Diät. „Das steigert die Motivation, wenn man Patienten dort abholt, wo sie geradestehen.“ Das gelte auch für den Bewegungsaspekt. Toplak setzt sich dafür ein, Bewegung wieder mehr in den Alltag zu integrieren. Als Idealziel für die tägliche Bewegung nennt er die von der WHO empfohlenen täglichen 10.000 Schritte. Gelinge es zumindest fünfmal pro Woche, dieses Ziel zu erreichen, sei dies „auch sehr zufriedenstellend“.
Die DASH-Diät (Dietary Approaches to Stop Hypertension) zeigt in Studien Effekte bei der Reduktion der Risikofaktoren und Komponenten des metabolischen Syndroms. In einer 2021 publizierten systematischen Analyse von 54 Studien senkte diese pflanzenbasierte Kost mit einem niedrigen Gehalt an Salz, Fett und Zucker in einem Zeitraum von zwei bis 52 Wochen das Körpergewicht um 1,59 kg, den BMI um 0,64 kg/m2 und den Bauchumfang um 193 Zentimeter. Außerdem wurden positive Effekte auf den Blutdruck und die Cholesterinwerte erzielt: minus 3,94 mmHg systolisch und minus 2,44 mmHg diastolisch. „Die DASH-Diät kann somit ein praktikabler Ansatz zur Gewichtsabnahme und zur Kontrolle von Blutdruck und Hypercholesterinämie sein“, kommentiert Friedrich Hoppichler die Ergebnisse. Er weist aber auf mögliche Hürden in der Umsetzung hin: „Die Kost erfordert eine sorgsame Auswahl der Lebensmittel. Fertiggerichte sind nicht vorgesehen. Somit handelt es sich mehr um eine Lebensstilumstellung als um eine Diät. Es gibt auch keine schnelle Phase des Gewichtsverlusts, sondern die Abnahme erfolgt langsam und kontinuierlich. Das schränkt die Motivation vieler Patienten ein, dranzubleiben.“ Zurückhaltend zeigt sich Hoppichler bezüglich der Effekte von Intervallfasten. Es gebe noch nicht genügend Beweise für eine vorbeugende Wirkung auf kardiovaskuläre Erkrankungen. „Die Ergebnisse aus Studien sind nicht konsistent. Wir brauchen dazu noch mehr Daten.“
Überernährung: Die Spurenelement-Theorie
In Studien aus vergangenen Jahren zeigten sich Hinweise, dass übermäßige Kalorienaufnahme durch einseitiges Essen gefördert wird. Die Begründung: Der Organismus versucht, ein Defizit an Spurenelementen zu decken, wie Hermann Toplak berichtet. „Dadurch steigt auch das Risiko, dass stets mehr Energie aufgenommen als verbraucht wird.“ Hier beginne ein Circulus vitiosus: Wenn derjenige weiterhin einseitig isst, wird das Defizit an Spurenelementen nicht ausgeglichen und man isst immer weiter und immer mehr, ohne dass der Körper das erhält, was er benötigt. Toplak plädiert daher dafür, anstatt von „gesunder Ernährung“ von Ernährung zu sprechen, die das „Nährstoffbedürfnis deckt“.
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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 /25.02.2023
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