Medizin & Wissenschaft

Lipidtherapie: Hochrisiko-Konstellationen

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Zwei Drittel der Personen, die schon längere Zeit einen hohen LDL-Cholesterinwert haben, erleiden im Lauf ihres Lebens ein kardiovaskuläres Ereignis. Atherosklerose, St. p. kardiovaskuläres Ereignis, Niereninsuffizienz sowie Diabetes mellitus ind als Konstellationen mit einem sehr hohem Risiko einzustufen.

von Martin Schiller

Pro Lebensjahrzehnt mit einer Hypercholesterinämie erhöht sich das Risiko für eine koronare Herzkrankheit um 39 Prozent. Das fanden Wissenschafter nach Auswertung von Daten von 1.478 Personen, die Teil der Framingham Heart Study waren, vor einigen Jahren heraus*. Die Ergebnisse galten auch für eine milde bis moderate Überschreitung der Zielwerte. Die Auswirkung der Zahl an Jahren mit erhöhten Cholesterinwerten wurde von den Autoren mit den ‚pack-years‘ (= Anzahl der Packungsjahre: Zahl der pro Tag gerauchten Zigarettenpackungen multipliziert mit der Zahl der Raucherjahre) von Rauchern verglichen: Es kommt zu einem kumulativen Effekt, wie Univ. Prof. Andreas Zirlik von der Klinischen Abteilung für Kardiologie der Medizinischen Universität Graz bestätigt. „Rund zwei Drittel der Personen, die längerfristig einen hohen LDL-Cholesterinwert aufweisen, erkranken im Laufe ihres Lebens an Atherosklerose mit ihren Folgekomplikationen

wie etwa Herzinfarkt und Schlaganfall. Dabei ist der Risikofaktor aber immer ein Integral über die Zeit. Es kommt für die Prognose also nicht nur darauf an, dass zum Beispiel aktuell ein LDL-Cholesterinwert von 180 mg/dl vorliegt, sondern auch auf den Zeitraum, für den dieser Wert bereits besteht.“

Die Senkung des LDL-Cholesterins stehe im Mittelpunkt der modernen Lipidtherapie – sagt Univ. Prof. Christoph Säly von der Abteilung für Innere Medizin am Landeskrankenhaus Feldkirch. „In zahlreichen klinischen Interventionsstudien wurde gezeigt, dass eine Senkung des LDL-Cholesterins kausal der Atherosklerose entgegenwirkt. Die Prognose von kardiovaskulären Risikopatienten verbessert sich dadurch deutlich.“ Eine diesbezügliche Wirksamkeit sei für Statine, aber auch für andere LDL-Cholesterin senkende Interventionen „exzellent“ bewiesen.

Atorvastatin und Rosuvastatin bezeichnet Zirlik als „moderne, potente Statine mit einem hohen Wirksamkeitsgrad und einer geringen Rate an Nebenwirkungen“, weshalb sie bei der Lipidtherapie die erste Wahl darstellten. Erzielt die Statin-Monotherapie noch nicht den gewünschten Effekt, wird mit dem Cholesterinresorptionshemmer Ezetimib kombiniert. Kann der Zielwert auf diese Weise noch immer nicht erreicht werden, stehen mit den PCSK9-Hemmern Alirocumab und Evolocumab monoklonale Antikörper zur Verfügung, die zu einer weiteren effektiven LDL-Cholesterin-Senkung führen und auch das kardiovaskuläre Risiko bei Hochrisikopatienten reduzieren. Zirlik fasst die Effekte zusammen: „Mit einer niedrig-dosierten Statintherapie erzielt man in der Regel eine 20- bis 25-prozentige Senkung des LDL-Cholesterins. Mit einer hochdosierten Statintherapie beträgt die Reduktion 40 bis 50 Prozent.“ Ergänzt man die hochdosierte Statintherapie um Ezetimib, ergebe sich eine zusätzliche Senkung von zehn Prozent. „Ein PCSK9-Hemmer als Monotherapie ermöglicht eine Senkung des LDL-C-Werts um 50 bis 60 Prozent, in Kombination mit Statin und Ezetimib sogar um 90 Prozent“, führt der Experte weiter aus.

Alternative bei Diabetes

Auch Bempedoinsäure hat sich in der Lipidtherapie etabliert. Ähnlich wie Statine hemmt sie die Cholesterinbiosynthese. In der CLEAR-Outcomes Studie wurde der primäre Endpunkt zur Verringerung von kardiovaskulären Ereignissen mit dem neuen Wirkstoff erreicht, berichtet Christoph Säly. „Der Wirkstoff in Kombination mit Ezetimib ist in seiner Potenz einer LDL-Cholesterin-Senkung mit einem Standard-Statin vergleichbar und als wertvolle Ergänzung zur lipidsenkenden Therapie zu sehen.“ Zirlik sieht den Einsatz vor allem als Alternative, wenn Statine nicht toleriert werden. Außerdem reduziere der Wirkstoffsystemische Entzündungsparameter. Daher stelle diese Substanz eine „gute Altenative“ (Zirlik) für die cholesterinsenkende Therapie von Menschen mit Diabetes mellitus dar.

Eine weitere Option zur Senkung des LDL-Cholesterins bei unzureichender Wirkung der Statine ist die small interfering RNA (siRNA) Inclisiran. „Dabei handelt es sich um ein kleines Molekül, das die Produktion von PCSK9 durch Interferenz mit der mRNA des Proteins hemmt“, erklärt Säly das Wirkprinzip. Ein Vorteil der Substanz sei es, dass sie nur alle sechs Monate appliziert werden müsse. Eine große Endpunktstudie läuft derzeit noch.

Dass die Häufigkeit von Nebenwirkungen durch Statine vielfach überschätzt wird, betonen beide Experten. Die Wahrscheinlichkeit für Myalgien oder Myopathien sei ihren Aussagen zufolge „sehr gering“. Wichtige Erkenntnisse zur diesbezüglichen Wahrnehmung der Patienten lieferte die SAMSON-Studie. Die Teilnehmer erhielten vier Monate lang Statine, vier Monate Placebo und vier Monate keine Behandlung. Jeder Teilnehmer durchlief alle drei Phasen in zufälliger Abfolge. „Am wenigsten unter Muskelbeschwerden litten die Teilnehmer ohne Behandlung. Bemerkenswert war aber, dass sich das Ausmaß der Beschwerden in der Statin-Phase und in der Placebo-Phase sehr ähnelte. Man muss also von einem Nocebo-Effekt als häufige Ursache einer vermuteten Statin-Intoleranz ausgehen“, kommentiert Säly die Ergebnisse.

Zielwerte nach Risikogruppen

In den aktuellen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) and European Atherosclerosis Society (EAS)* ist eine LDL-C-Zielwert-Bestimmung anhand der Einteilung in Risikogruppen vorgesehen, die auf Scores des Zehn-Jahres-Risikos für eine tödliche kardiovaskuläre Erkrankung beruht:

  • Personen mit niedrigem Risiko: Zielwert < 116 mg/dl
  • Personen mit moderatem Risiko: Zielwert < 100 mg/dl
  • Personen mit hohem Risiko: Therapieregime zur Erreichung von LDL-Cholesterin-Reduktion um ≥ 50 % vom Ausgangswert sowie ein Zielwert < 70 mg/dl
  • Personen mit sehr hohem Risiko: LDL-Cholesterin-Reduktion um ≥ 50 % vom Ausgangswert sowie ein Zielwert < 55 mg/dl

* 2019 ESC/EAS Guidelines for the management of dyslipidaemias

Strenge Senkung bei hohem Risiko

Folgende Konstellationen sind mit einem sehr hohen Risiko einzustufen, weshalb eine „besonders strenge“ (Säly) Senkung des LDL-Cholesterins notwendig ist: bei etablierter Atherosklerose; St. p. kardio vaskuläres Ereignis; Niereninsuffizienz sowie Menschen, die an Diabetes mellitus leiden, vor allem, wenn bereits Diabetes-Komplikationen vorhanden sind. „Der Zielwert liegt bei <55 mg/Deziliter, und bei niedrigen unbehandelten LDL-Cholesterin-Ausgangswerten von unter 110 mg/dl bei einer Halbierung des LDL-Cholesterins. Zum Beispiel sollte ein Patient mit rezentem Myokardinfarkt und einem unbehandelten LDL-Cholesterin von 80 mg/dl einen Zielwert von 40 mg/dl erreichen“, sagt Säly. Bei einem hohen LDL-Cholesterin und rezentem Myokardinfarkt reiche eine Statin-Monotherapie nicht aus, betont Zirlik: „In diesen Fällen muss sofort mit einer Kombination aus Statin und Ezetimib behandelt werden“. Eine aggressive Therapie sei auch beim metabolischen Syndrom angezeigt, wie Zirlik betont: „Dabei addieren sich die kardiovaskulären Risikofaktoren nämlich nicht nur, sondern es kommt zur überproportionalen Erhöhung des Risikos für ein kardiovaskuläres Ereignis.“

Bei jungen Menschen ist nach Ansicht beider Experten ein differenziertes Vorgehen wichtig. Säly nennt ein Beispiel: „Pro 40 mg/dl Senkung von LDL-Cholesterin reduziert man das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse um etwa 20 Prozent. Wenn man einer 20-jährigen gesunden Frau mit ein wenig zu hohem LDL-Cholesterinwert eine 20-prozentige Risikoreduktion vermitteln würde, profitiert sie absolut gesehen kaum davon, weil sie ein minimales Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse hat.“ Zirlik nennt einen anderen Fall: „Bei einem 30-Jährigen mit erhöhten Cholesterinwerten ohne sonstige Risikofaktoren kann zunächst auch nur eine Diätberatung erfolgen. Bei konsequenter Umsetzung lassen sich zehn bis 15 Prozent des Cholesterinspiegels damit modulieren.“ Diese Überlegungen gelten aber nicht für Patienten mit wirklich sehr hohen LDLCholesterinwerten von über 190 mg/dl, ergänzt Säly. „Hier muss an eine familiäre Hypercholesterinämie gedacht werden.“

Die Prävalenz der heterozygoten familiären

Hypercholesterinämie liegt bei 1:200 bis 1:300 in der Durchschnittsbevölkerung. Besonders bei diesen Personen müsse laut Zirlik früh und konsequent therapiert werden, da sich kardiovaskuläre Erkrankungen schneller entwickeln. In den Leitlinien ist bei familiärer Hypercholesterinämie im Zuge der Primärprävention eine Reduktion des LDL-Cholesterin-Ausgangswerts von ≥ 50 % und eine Senkung <100 mg/dl vorgesehen. Erhöhte Triglyceridwerte würden im Rahmen einer cholesterinsenkenden Therapie zwar auch immer „ein Stück weit mittherapiert“, so Zirlik. Jedoch habe sich in bisherigen Studien gezeigt, dass therapeutische Strategien das kardiovaskuläre Risiko nicht signifikant gesenkt hätten. Fibrate seien den eindeutigen Wirknachweis „bisher schuldig geblieben“ (Zirlik). „Derzeit werden nur aggressive Befunde behandelt. Liegt der Triglyceridwert bei über 500 mg/dl, kommt eine Antisense-Therapie zum Einsatz“, so der Experte. Positiv steht er dem Einsatz von Omega-3-Fettsäuren gegenüber: „Man kann solche Präparate zusätzlich zur Statintherapie oder einer Kombinationstherapie versuchen. Zu bedenken ist allerdings, dass die Einnahme von immer mehr Präparaten dann auch mit Complianceproblemen einhergeht.“

Bestimmung von Lipoprotein (a)

Lipoprotein (a) wirkt proatherogen und prothrombisch und ist ein unabhängiger Risikofaktor für die Entstehung von Atherosklerose. Der Wert im Blut ist primär genetisch determiniert. Christoph Säly rät daher dazu, zumindest einmal im Leben eine Bestimmung des Lipoprotein (a) durchzuführen, um ein etwaiges dadurch bedingtes kardiovaskuläres Risiko abzuklären oder auszuschließen. Es seien auch bereits Wirkstoffe in Entwicklung und Gegenstand klinischer Studien, die Lipoprotein (a) gezielt senken können. „Davon werden Risikopatienten künftig profitieren“, ist Säly überzeugt. Vorerst stehe bei Hochrisikopatienten mit hohem Lp(a) eine konsequente Senkung des LDL-Cholesterin im Zentrum der Behandlung.

* Die Studie wurde in „Circulation“ der American Hear Association publiziert.

 


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 /10.03.2023
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