Medizin & Wissenschaft

Long COVID –
Umgang mit dem Erschöpfungssyndrom im Alltag

Lesezeit: 3 Minuten Quelle: Praxiswelt

Immer wieder werden Ärzte und Ärztinnen mit der Tatsache konfrontiert, dass Personen, die eine COVID-19-Erkrankung erleiden, nicht vollständig genesen. Bei einem Teil bleiben Langzeiteffekte in verschiedenen Körperregionen bestehen, hierunter das Lungen-, Herzkreislauf- und Nervensystem, und es sind auch psychologische Folgen zu beobachten. Diese Effekte scheinen unabhängig von der anfänglichen Schwere der Infektion aufzutreten, allerdings gehäuft bei Frauen, im mittleren Alter und bei denjenigen, die zu Beginn mehr Symptome aufwiesen. Im Laufe der Pandemie wurden für dieses Phänomen unterschiedliche Begriffe vorgeschlagen wie „long COVID“ oder „long-haul COVID“ sowie der von der WHO angeregte Begriff Post-COVID-19-Erkrankung. Eine global anerkannte, standardisierte Falldefinition dieser Erkrankung steht noch aus.

„Fix und fertig“ – Chronisches Fatigue-Syndrom

Im „long COVID“-Kontext zählt andauernde Erschöpfung, auch chronisches Fatigue-Syndrom (CFS) genannt, zu dem am häufigsten angegebenen schwächenden Symptom. Sie wird oft als Gefühl überwältigender körperlicher und geistiger Ermüdung beschrieben. Patienten berichten, dass sich ihr Körper schwer anfühlt, und selbst geringste Bewegungen enorm viel Kraft kosten. Im Falle einer geistigen und kognitiven Erschöpfung fällt es den Betroffenen schwer, zu denken, sich zu konzentrieren oder neue Informationen aufzunehmen. Das Gedächtnis und die Lernfähigkeit sind beeinträchtigt. Viele berichten von Wortfindungsstörungen und fühlen sich nicht mehr in der Lage, Probleme so gut zu lösen, wie vor der COVID-Erkrankung.

CFS kann dazu führen, dass sich die Patienten und Patientinnen schon nach der Erledigung kleinerer alltäglicher Aufgaben „total erledigt“ fühlen und so müde sind, dass sie ins Bett gehen könnten. Der Grad der Erschöpfung kann von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde variieren. Für die Betroffenen ist es ein äußerst belastender Zustand. Sie fühlen sich von Familie, Freunden und Kollegen häufig unverstanden. Neben dem klassischen Behandlungsplan können Sie Ihren Patienten und Patientinnen mit den folgenden Verhaltensempfehlungen helfen, besser im Alltag zurechtzukommen.

 

Mit der Pacing-Strategie die Kräfte richtig einteilen

Für Betroffene ist es nun essenziell, ihre Kräfte einzuteilen, um einen Kollaps zu vermeiden. Pacing, also konsequente Schonung durch Entschleunigung, kann die Patienten und Patientinnen stabilisieren und so eine weitere Verschlechterung des Zustands verhindern. Es zielt darauf ab, die Energieressourcen zu schonen und Überlastungen aller Art zu vermeiden – auf körperlicher, geistiger und emotionaler Ebene. Wird die Pacing-Strategie möglichst früh konsequent angewendet, steigen die Chancen, dass sich der Zustand wieder verbessert oder die Erkrankung sogar vollständig ausheilt. Zudem können die Betroffenen die Kontrolle über ihren Zustand bis zu einem gewissen Grad zurückgewinnen. Das stärkt die psychische Verfassung und hilft, die aktuelle Situation besser zu akzeptieren.

So funktioniert die Pacing-Strategie: Auf Basis der derzeitigen Belastbarkeit wird ein flexibler Aktivitätenplan aufgestellt. Er soll helfen, stets unterhalb der individuellen körperlichen und psychischen Belastungsgrenze zu bleiben, das Tempo bewusst zu bestimmen und sich selbst realistisch einzuschätzen. Die Aktivitäten sollten immer an den wachsenden oder sinkenden Energiepegel angepasst werden. Dafür muss stetig hinterfragt werden, welchen Aktivitätsumfang sich die Betroffenen zutrauen, ohne einen Kollaps oder Rückfall zu riskieren. Wichtig ist, dass man sich nicht mit anderen oder mit dem früheren Leistungsstand vergleicht. Die folgenden Tipps helfen dabei, die Pacing-Strategie im Alltag umzusetzen.


5 Tipps für die erfolgreiche Entschleunigung im Alltag

1. Prioritäten setzen
Wenn der Energiepegel niedrig ist, sollte sichergestellt sein, dass die Kräfte nur für die wichtigsten Aktivitäten eingesetzt werden. Es kann helfen, die Aufgaben danach einzuteilen, ob sie wichtig, dringend, unwichtig oder zeitunkritisch sind. Die wichtigen, dringenden Aufgaben sollten Vorrang haben. Es kann sehr hilfreich sein, sich für wichtige, dringende Anliegen Hilfe zu holen und zu lernen, Tätigkeiten zu delegieren, anstatt sie selbst zu erledigen.

2. Grenzen kommunizieren
Wer unter dem Chronischen Fatigue-Syndrom leidet, sollte sein Umfeld über seine Situation aufklären. Ermutigen Sie Ihre Patientinnen und Patienten dazu, in ihrem Umfeld zu kommunizieren, warum sie nicht mehr so aktiv sein können wie früher, warum sie Verabredungen mitunter kurzfristig absagen müssen und dass es ihnen nicht guttut, über die eigenen Belastungsgrenzen zu gehen. Nur durch Transparenz können Mitmenschen das nötige Verständnis entwickeln und entsprechend unterstützten.

3. Im vielen Etappen zum Ziel
Bei der Planung des Tages oder der Woche sollten Aktivitäten möglichst auf mehrere Tage verteilt werden. Es ist nicht sinnvoll, sich mit dem Anspruch zu überfordern, alle Aufgaben an einem einzigen Tag erledigen zu wollen.

4. Gezielt entspannen
Genauso wichtig wie die Planung der Aktivitäten ist die Planung der Entspannungszeiten. Über den Tag verteilt sollten so viele Ruhezeiten wie nötig wahrgenommen werden. Meditation und autogenes Training können hilfreiche Ansätze sein, um den Geist zu beruhigen und tiefere Erholungsphasen zu erleben.

5. Tagebuch oder Bullet Journal führen
Ein Aktivitätstagebuch kann ein wertvoller Helfer dabei sein, die Kräfte besser einzuteilen. Aufgaben können nach Prioritäten geordnet werden und auch das Energieniveau kann mithilfe eines Trackers täglich bestimmt und dokumentiert werden. Dazu sind im Internet viele praktische Gestaltungsvorlagen zu finden. Da Erschöpfungskrisen auch häufig verzögert auftreten, kann das Tagebuch rückblickend helfen, den Auslöser des Crashs zu identifizieren.


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