Medizin & Wissenschaft
Masern in Österreich: Mehrere Herde
Lesezeit: 5 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Österreich ist seit Jahresbeginn von einer Masernwelle betroffen; rund 20 Prozent der Betroffenen werden stationär betreut. Im Gegensatz zu früheren Ausbrüchen wurden zeitgleich unterschiedliche Genotypen nachgewiesen. Das spricht für mehrere Ausbruchsherde und auslösende Ereignisse.
von Martin Schiller
Seit Jahresbeginn wurden in Österreich 129 Masernfälle am Nationalen Referenzlabor bestätigt (Stand 20. Februar). Betroffen sind aktuell alle Bundesländer mit Ausnahme von Kärnten. Auch junge Menschen und Erwachsene mittleren Alters sind betroffen; rund 20 Prozent der Patienten sind hospitalisiert. Bisherige genetische Analysen zeigen Beunruhigendes, wie Priv. Doz. Lukas Weseslindtner vom Zentrum für Virologie der Medizinischen Universität Wien berichtet: „Es wurden in mehreren Bundesländern unterschiedliche Genotypen nachgewiesen. Es gibt also bereits mehrere Quellen.“ Die Eindämmung der vielen Brandherde werde zunehmend aufwendiger. Den Aussagen des Experten zufolge drohe die Situation, dass die Masern in Österreich wieder frei zirkulieren.
Das Zeitfenster für eine postexpositionelle Impfung beträgt 72 Stunden. In dieser Zeit muss die Überprüfung der Immunitätslage aller Kontaktpersonen erfolgen. Das Eruieren, mit welchen Menschen die Person in der ansteckenden Periode Kontakt gehabt hat, sei „extrem aufwendig, besonders wenn mehrere Brandherde gleichzeitig vorliegen“, wie Weseslindtner betont. Erschwerend komme die Tatsache hinzu, dass die Ansteckungsfähigkeit bereits vier Tage vor Auftreten des typischen Exanthems beginnt und bis zu vier Tage nach Manifestation anhält.
Kurze Exposition reicht aus
Bereits eine kurze Exposition führt bei fehlendem Impfschutz zu einer Maserninfektion. Die Secondary Attack Rate wird in der Literatur mit mehr als 90 Prozent angegeben. „Für eine Übertragung reicht es bereits aus, wenn eine Person kurz vor Krankheitsmanifestation an einem Ungeimpften vorbeigeht“, streicht Weseslindtner die hohe Infektiosität heraus. Da Viruspartikel für mehrere Stunden in der Luft verbleiben, ist ein direkter Kontakt für die Übertragung nicht notwendig. Die hohe Ansteckungsfähigkeit macht einen Impfschutz von mindestens 95 Prozent der Bevölkerung mit zwei nachgewiesenen Impfdosen erforderlich, um die Zirkulation des Virus einzudämmen. Diese Durchimpfungsrate muss allerdings gleichmäßig über die gesamte Bevölkerung verteilt sein, wie Weseslindtner erklärt: „Es reicht nicht aus, wenn die Impfrate in einem Bundesland 98 Prozent, aber in einem anderen nur 92 Prozent beträgt. Das Virus sucht stets den Weg zu den nichtimmunen Personen.“
Symptome ähnlich respiratorischem Infekt
Die Inkubationszeit beträgt bei Masern meist zehn bis 14 Tage, in manchen Fällen auch nur sieben Tage und selten bis zu 21 Tage. Die anfänglichen Symptome entsprechen jenen eines respiratorischen Infektes. Es kommt zu Schnupfen, Husten und Konjunktivitis (katarrhalisches Stadium). Erst zwei bis drei Tage nach den initialen Symptomen entwickelt sich das typische makulopapulöse Exanthem, das sich vom Kopf über den gesamten Körper ausbreitet. Die Flecken sind relativ gleichmäßig über den Körper verteilt. Das gleichzeitige Auftreten von Fieber ist in diesem Krankheitsstadium charakteristisch. Die Verdachtsdiagnose wird auf Basis der Falldefinition gestellt. „Fieber mit kleinfleckigem Ausschlag sowie eines der drei genannten respiratorischen Symptome muss als Verdacht gemeldet werden“, sagt Weseslindtner. Der Ausschlag selbst sei schwer von anderen Erkrankungen mit Exanthem wie Röteln, Ringelröteln, Scharlach, DengueFieber oder einer Infektion mit dem EpsteinBarrVirus zu differenzieren. Besonders das RingelrötelnVirus zirkuliert derzeit in Österreich und eine Unterscheidung allein aufgrund des klinischen Bildes „ist nur schwer möglich“. Der Experte warnt außerdem davor, Masern zu übersehen: „Wenn bei respiratorischen Symptomen ein Antibiotikum verordnet wird und es kurz darauf zum Exanthem kommt, könnte der Ausschlag als Arzneimittel bedingt eingestuft werden. Dabei besteht die Gefahr einer Fehldiagnose, denn es könnte sich in Wahrheit um Masern handeln.“
„Masern wirken nachhaltig immunsuppressiv.“ Priv. Doz. Lukas
Weseslindtner Medizinische Universität Wien
Immunologische Lücke
Bei Masern handelt es sich um eine schwere systemische Infektion; die Komplikationsrate liegt bei rund 20 Prozent. Zentralnervensystem, Lunge und Immunsystem können im Rahmen einer Infektion betroffen sein. Da keine spezifische antivirale Therapie existiert, erfolgt eine symptomorientierte Therapie in Abhängigkeit von der Organmanifestation. Mit einer Häufigkeit von etwa einem Fall pro 1.000 gemeldeten Infektionen kann es zur Enzephalitis kommen. „Diese führt bei 30 bis 40 Prozent der Betroffenen zu Nachwirkungen und Folgeschäden“, sagt Weseslindtner. Und er betont, dass eine Maserninfektion das Immunsystem nachhaltig schwächt: „Das Virus löscht gleichermaßen das bisher aufgebaute immunologische Gedächtnis. Die Infektanfälligkeit ist in den Folgejahren deutlich erhöht.“ Spätfolge einer Maserninfektion kann die subakut sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) sein. Das höchste Risiko dafür haben Kinder, die im ersten Lebensjahr erkranken, mit einer Häufigkeit von 1:600. „Die SSPE kann auch erst bis zu acht Jahre nach der Infektion auftreten und sie verläuft in der Regel tödlich“, sagt Weseslindtner.
Impflücken schließen
Fehlt eine entsprechende Impfdokumentation oder besteht Unsicherheit bezüglich des vollständigen Impfschutzes, rät Weseslindtner dazu, fehlende Impfungen möglichst nachzuholen. Ausgenommen sind Menschen, die sicher wissen, dass sie die Masern als Wildvirusinfektion durchgemacht haben. „Wenn es gelingt, bei allen Personen, bei denen keine sichere Immunität vorliegt, die Impfung nachzuholen, könnte die drohende Welle verhindert werden“, so der Experte. Die Impfung gewährt in den meisten Fällen eine sterilisierende Immunität; die Effektivität der Impfung beträgt 95 Prozent. Wird die zweite Impfung verabreicht, kann auch diese Lücke von fünf Prozent geschlossen werden. Die Immunität besteht lebenslang, auch noch in höherem Alter. Masern-Fälle bei Erwachsenen bedeuten nicht, dass der Impfschutz nachlässt, sondern zeigen, dass eine fehlende Immunität in der Jugend auch in höherem Lebensalter weiterbesteht.
Masern: Durchimpfungsrate im Überblick
Bei der Evaluierung der Durchimpfungsraten für Masern in Österreich ergibt sich in dem vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz erstellten „Kurzbericht Masern 2022“ folgendes Bild:
Bei den Einjährigen gab es im Jahr 2022 eine Durchimpfungsrate von 82 Prozent bei der ersten Teilimpfung; bei der zweiten Teilimpfung von 45 Prozent. Unter den Einjährigen sind 18 Prozent – also 15.500 Kinder – völlig ungeimpft.
In der Altersgruppe der Zwei- bis Fünfjährigen zeigt sich, dass in den Vorjahren die Kleinkinder nicht ausreichend geimpft wurden: Acht Prozent in dieser Altersgruppe sind völlig ungeimpft. Das Ziel einer 95-prozentigen Durchimpfungsrate konnte nicht einmal bei der ersten Teilimpfung erreicht werden; rund 87 Prozent der Kinder haben die 2. Teilimpfung erhalten. Das heißt konkret: Bei fast 19.000 Kindern fehlt die zweite Teilimpfung; weitere 28.200 Kinder haben noch gar keine Impfung erhalten. Vor allem die Kinder der Geburtenjahrgänge 2019 und 2020 weisen niedrige Durchimpfungsraten auf.
In der Altersgruppe der Sechs- bis Neunjährigen liegt die Durchimpfungsrate für die erste Teilimpfung über 95 Prozent; bei der zweiten Teilimpfung bei knapp über 90 Prozent. Insgesamt haben rund 30.700 Kinder nur die erste und noch nicht die zweite Teilimpfung erhalten.
Anders hingegen die Situation bei den Zehn- bis 18-Jährigen: Hier wird auch mit der zweiten Impfdosis das Ziel einer 95-prozentigen Durchimpfungsrate erreicht.
Von den 18- bis 30-Jährigen verfügen etwas mehr als 86 Prozent über einen kompletten Impfschutz mit zwei Dosen. In dieser Altersgruppe benötigen rund 120.000 Personen eine zweite Impfdosis, um eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent zu erreichen. AM
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