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Neuropathischer Schmerz: Vielfältiges Erscheinungsbild

Lesezeit: 5 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Bis zu zehn Prozent aller Erwachsenen leiden an einem neuropathischen Schmerz. Neben klassischen Auslösern wie Diabetes mellitus, Herpes zoster oder alkoholische Polyneuropathie kann es auch infolge einer Operation zu chronischen neuropathischen Schmerzen kommen, die sich häufig als Narbenschmerzen präsentieren.

von Martin Schiller

Die klinische Symptomatik des neuropathischen Schmerzes ist durch Störungen der Nervenempfindung bei gleichzeitig auftretendem Schmerz gekennzeichnet. „Die Störung der Nerven leistung kann sich vielfältig äußern: Parästhesien, Dysästhesien, Wärme- oder Kälte-Hypästhesie sowie eine geringere oder stärkere Sensitivität für Berührungen sind möglich“, sagt Univ. Prof. Burkhard Gustorff, Vorstand der Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Schmerzmedizin an der Klinik Ottakring in Wien.

Der neuropathische Schmerz ist definiert als Folge einer Läsion oder Erkrankung des gesamten somatosensorischen Systems. Die Anamnese gibt Aufschluss darüber, ob eine relevante Läsion besteht oder eine Erkrankung vorliegt, die den Schmerz erklärt. Klassische Ursachen sind diabetische Polyneuropathie, Herpes zoster, Multiple Sklerose, Engpass-Syndrome wie beispielsweise das Karpaltunnelsyndrom, alkoholbedingte Neuropathie, Schlaganfall, Rückenmarksverletzungen und Traumen – etwa schwere Schnittverletzungen auf dem Arm. Auch infolge einer Operation kann es zu – vielfach chronischen – neuropathischen Schmerzen kommen, die sich dann häufig als Narbenschmerzen präsentieren. „Ein Risiko besteht auch bei Nerven und Nerven-Engpass-Operationen. Sie können durch Vernarbungen oder durch Bildung von Neuromen zu neuropathischen Schmerzen führen“, erklärt Gustorff.

Der neuropathische Schmerz tritt relativ häufig auf, wie Priv. Doz. Stefan Leis von der Universitätsklinik für Neurologie, neurologische Intensivmedizin und Neurorehabilitation am Uniklinikum Salzburg berichtet. „Schätzungsweise sieben bis zehn Prozent der Erwachsenen leiden insgesamt darunter.“ Im Detail: Bei Patienten mit Diabetes mellitus sind es bis zu 25 Prozent, bei Multiple Sklerose 24 Prozent und bis zu 75 Prozent der Patienten mit Rückenmarksverletzungen. Charakteristisch, und das beschreibt der Patient typischerweise, ist ein brennender Spontanschmerz. Im Anschluss werden in der neurologischen Untersuchung typische Reizphänomene und Missempfindungen identifiziert. Mit einem spitzen Gegenstand wie zum Beispiel einem Zahnstocher wird auf der Haut ein Schmerz evoziert. „Empfindet der Patient diesen in der möglicherweise neuropathischen Zone stärker als in einem gesunden Areal, liegt wahrscheinlich ein neuropathischer Schmerz vor“, erklärt Leis.

Gleiches gelte, wenn ein nicht-schmerzhafter Reiz als schmerzhaft empfunden wird (beispielsweise Kälte- oder Hitze-Allodynie). Um die Diagnose zu sichern, erfolgen im Anschluss abhängig von der Anamnese Neurographie, eine quantitativ sensorische Testung (QST) sowie bildgebende Verfahren (MRT, CT) oder Liquor-Untersuchungen.

Kombinationstherapien möglich

Die erste Wahl bei der systemischen Arzneimitteltherapie sind Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle. Hier empfehlen die Experten die Gabapentinoide Gabapentin und Pregabalin. Ebenfalls zur ersten Wahl zählen tri- und tetrazyklische Antidepressiva und der selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin. Laut Leis sind auch Kombinationstherapien möglich. „Die Evidenz dafür ist zwar nicht hoch, aber es besteht dadurch die Möglichkeit, niedrigere Dosierungen zu wählen und damit Nebenwirkungen abzumildern.“ Um das Risiko für ein serotonerges Syndrom zu vermeiden, sollten trizyklische Antidepressiva und Duloxetin nicht mit MAO-Hemmern kombiniert werden.

Opioide sind Mittel der dritten Wahl. „Opioide kommen oftmals in Kombination mit Mitteln der ersten und zweiten Wahl zum Einsatz, wenn der Schmerz mit diesen nicht beherrscht werden kann“, erklärt Leis. Auch bei diabetischer Neuropathie und Radikulopathie könnten sich Opioide als bessere Alternative erweisen. Ihr Einsatz sollte aufgrund des Abhängig-keitspotentials aber den Aussagen der Experten zufolge „zurückhaltend“ erfolgen und muss außerdem „regelmäßig“ evaluiert werden.

Topische Behandlung als Option

In internationalen Leitlinien werden Mittel zur topischen Behandlung als zweite Wahl eingestuft. Diese Therapie wird laut Gustorff gewählt, wenn – vor allem zentralnervöse – Nebenwirkungen die Zieldosis eines Medikaments der ersten Wahl nicht ermöglichen. Dies könne beispielsweise bei Schwindelpatienten mit diabetischer Polyneuropathie oder Patienten mit Sturzneigung der Fall sein. Diese Personen äußern oft von selbst eine Präferenz für eine topische Behandlung. „Bei lokal begrenzten Schmerzen wie etwa bei der Post-Zoster-Neuralgie können topische Mittel auch primär eingesetzt werden“, ergänzt Leis.

Für alle Arten der peripheren neuropathischen Schmerzen zugelassen ist das Capsaicin-8 %-Pflaster. Für das Lidocain-5 %-Pflaster besteht ausschließlich eine Zulassung für die Post-Zoster-Neuralgie. „Off-Label wird das Pflaster auch bei neuropathischen Schmerzen anderer Ursache an-gewendet“, sagt Gustorff. In Diskussion stehe außerdem, das Capsaicin-Pflaster als Mittel der ersten Wahl einzustufen, was er als „wissenschaftlich vertretbar“ bezeichnet.

Die Behandlung des neuropathischen Schmerzes erfordert Zeit, betonen beide Experten unisono. Leis rät dazu, langsam aufzudosieren und einen ausreichend langen Zeitraum zu geben, um die Wirksamkeit der medikamentösen Therapie zu beurteilen.

Bei Therapieversagen ist ein Wechsel auf eine andere Arzneimittelgruppe notwendig. Dauert das Therapieversagen an, empfiehlt Gustorff die Überweisung an eine spezialisierte schmerzmedizinische Einrichtung. Leis hebt in diesem Zusammenhang die Bedeutung einer ausführlichen Dokumentation hervor: „Hat die Therapie nicht gewirkt oder wurden die Medikamente abgesetzt, weil sie nicht vertragen wurden? Hat es Vortherapien gegeben?“ All das seien wichtige Fragen, deren Erläuterungen wesentlich für die weitere Vorgangsweise sind.

Dass möglicherweise eine neuropathische Schmerzkomponente vorliegt, sollt der Einschätzung von Gustorff zufolge verstärkt in Betracht gezogen werden. Und er betont auch, dass es wichtig sei, den neuropathischen Schmerz als Diagnose zu benennen, „damit diese konkret aufscheint: also zum Beispiel ‚neuropathischer Schmerz bei diabetischer Polyneuropathie‘ oder ‚neuropathischer Schmerz nach Zoster-Infektion‘.“

Konzept des gemischten Schmerzsyndroms: „Mixed Pain“

In manchen Fällen ist eine Klassifizierung des Schmerzes als eindeutig nozizeptiv oder neuropathisch nicht möglich. Daher wurde das Konzept des gemischten Schmerzsyndroms („Mixed Pain“) entwickelt. „Mixed Pain bildet aus zwei pathogenetischen Hypothesen ein Verständnis für vom Patienten erlebte Schmerzen ab“, erklärt Gustorff. Dies könne zum Beispiel der Fall sein, wenn sowohl ein Arthrose­bedingter Gelenkschmerz als auch ein Nerven­Engpass vorhanden sind. Besonders häufig tritt die Mischform bei unspezifischen Rückenschmerzen und Bandscheibenläsionen auf. Durch die unterschiedlichen analgetischen Therapieschemata für die Schmerzkomponenten ist eine sorgsame Evaluation notwendig. „Die schwierige Frage lautet stets: Liegt beim jeweiligen Patienten ein Mixed Pain vor? Es existieren keine Messmethoden dafür“, merkt Gustorff an. Um dies herauszufinden, werde ein Behandlungstest durchgeführt: „Wenn Patienten unter Behandlungsformen mit bekanntermaßen hoher Wirksamkeit ausschließlich bei Nervenschmerzen eine Schmerzreduktion erleben, ist von einer neuropathischen Komponente auszugehen und man kann vom Mixed Pain sprechen.“ In der Konsequenz müss en nun beide Schmerzformen spezifisch behandelt werden.


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4_2024
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