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Medikamenten-Einnahme bei Hitzewellen: Interaktion mit Thermoregulation

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Viele Medikamente interagieren im Körper mit bestimmten Grundmechanismen für die Thermoregulation. Wird die Dosis bei länger andauernden Hitzewellen nicht angepasst, beeinflusst dies den therapeutischen Effekt. Besonders kritisch ist die mögliche Hyponatriämie durch Diuretika, Laxantien, SGLT2-Hemmer und SSRI.

von Martin Schiller

Durch klimatische Veränderungen treten Hitzewellen im Sommer immer häufiger, mit höherer Intensität und längerer Dauer auf. Physiologisch kommt es unter Hitzestress zu Flüssigkeitsverlusten durch den Schweiß, Veränderungen der Nierenfunktion und der Herzauswurfleistung sowie zu Vasodilatation. Gleichzeitig beeinflusst Hitze die Pharmakokinetik: Absorption, Verteilung, Metabolisierung und Exkretion können sich verändern. Aus all diesen Faktoren kann sich die Notwendigkeit ergeben, Medikationspläne des Patienten im Rahmen von Hitzewellen zu überprüfen. „Viele Arzneimittel interferieren mit bestimmten Grundmechanismen, die der Körper für die Thermoregulation nützt. Daraus ergibt sich eine Veränderung der therapeutischen Sicherheit. Wird die Einnahme bei lang andauernder Hitze nicht angepasst, kann dies negative gesundheitliche Folgen haben oder den Effekt der Behandlung vermindern“, erklärt Priv. Doz. Hans Peter Hutter vom Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien. Und er nennt neben dem Einfluss auf die Wärmeabfuhr weitere mögliche Nebenwirkungen bei Hitzeexposition: „Eine Hemmung der Schweißsekretion, Dehydratation, Elektrolyt-Imbalancen und Blutdruckabfall sind möglich.“

Univ. Prof. Michael Freissmuth, Leiter des Zentrums für Physiologie und Pharmakologie an der Medizinischen Universität Wien, weist auf das Risiko für eine Hyponatriämie durch Einnahme von Diuretika, SGLT2-Inhibitoren, Laxantien und SSRI hin: „Vor allem ältere Menschen gleichen bei hohen Temperaturen den Verlust an ausgeschwitzten Salzen nicht adäquat aus. Entsteht nun durch die Einnahme von Diuretika ein zusätzlicher Flüssigkeitsverlust, kann eine Hyponatriämie auftreten.“ Besonders Personen, die an Herzinsuffizienz leiden und Diuretika einnehmen, seien in Hitzewellen gefährdet. Den gleichen Mechanismus gibt es bei Laxantien, weil auch diese Substanzgruppe zu Ionenverlusten führt.

Freissmuth weist in diesem Zusammenhang auf einen physiologischen Nachteil von in Mittel- und Nordeuropa geborenen Menschen hin: „Hitzeadaptierte Menschen wie etwa auf dem afrikanischen Kontinent weisen einen höheren Aldosteronspiegel auf und verlieren dadurch mit dem Schweiß weniger Salz. Personen in unseren Breiten sind hingegen eher abgeschlagen, wenn in heißen Phasen nicht ausgiebig Salze zugeführt werden. Die Einnahme von Diuretika und Laxantien verschärft diese Situation.“

Verstärkte Aufmerksamkeit erfordert auch ein Patient, der SGLT2-Inhibitoren einnimmt, wie Freissmuth erläutert: „Auch diese Substanzgruppe führt zum Salzverlust. Bedenkt man nun, dass SGLT2-Hemmer bei Patienten mit Herzinsuffizienz oder zur Nephroprotektion bei Diabetes mellitus eingesetzt werden, also bei Personen, die vor allem bei gleichzeitigem Bestehen einer arteriellen Hypertonie zu einer Salzreduktion in der Nahrung angehalten sind, wird die Versorgung mit Natrium insgesamt schon kritisch.“

SSRI wiederum können eine Hyponatriämie vor allem bei älteren Menschen auch schon unter angenehmen Witterungsbedingungen auslösen. Laut Freissmuth sind ab einem Alter von 60 bis 65 Jahren insgesamt rund drei Prozent der Bevölkerung betroffen. Im Rahmen einer Hitzewelle sei dieses Kollektiv besonders gefährdet, eine Hyponatriämie zu erleiden. Auch bei SNRI bestehe ein gewisses Risiko. Freissmuth schränkt aber ein, dass „dieses Phänomen noch nicht so ausgiebig wie bei SSRI beobachtet wurde“.

Nebenwirkungen bei Hypertonus

Die Hitze kann auch die Regulation des Blutdrucks beeinflussen. Sowohl Hutter als auch Freissmuth weisen deshalb darauf hin, dass es bei der Therapie mit Antihypertensiva zu einem Abfall des Blutdrucks kommen kann und möglicherweise eine Anpassung der Dosierung erforderlich ist. Bei Einnahme von ACE-Hemmern sind während Hitzewellen laut Freissmuth zwei Aspekte als problematisch anzusehen: „Erstens senken sie den Aldosteronspiegel, wodurch weniger Salz im Organismus konserviert werden kann. Zweitens kommt es zur Störung der Durstregulation.“ Auch bei Beta-Blockern sei Wachsamkeit gegeben. „Sie führen zu einem Elektrolytverlust, weil sie die Sympathikus-getriebene Reninfreisetzung hemmen. Außerdem kann die Vasodilatation unterdrückt sein, wodurch dem Organismus die Wärmeabgabe erschwert wird.“

Vorsicht bei Muskarin-Rezeptor-Antagonisten

Substanzen, die Muskarinrezeptoren blockieren, erfordern bei Hitzewellen ebenfalls großes Augenmerk, wie Freissmuth ausführt: „Niederpotente Neuroleptika, Antihistaminika, Biperiden, Benzatropin und urologische anticholinerge Spasmolytika wie Oxybutinin, Tolterodin und Solifenacin beeinträchtigen durch die Blockade der Schweißproduktion die Temperaturregulation.“ Vor allem Vertreter der ersten Generation der Antihistaminika führen zu reduziertem Schwitzen, während H1-Antagonisten höherer Generationen nur noch eine geringe bis fehlende antimuskarinerge Wirkung aufweisen.

In der Literatur wird eine mögliche verstärkte Wirkung von transdermalen therapeutischen Systemen beschrieben, beispielsweise bei Schmerzpflastern. Hier schränkt Freissmuth ein: „Die verstärkte Wirkung ist denkbar. Jedoch weisen die betroffenen Patienten in der Regel eine hohe Wirkstofftoleranz auf. Es ist nicht zu erwarten, dass der Patient gefährdet ist, eine Atemlähmung während der Hitze zu bekommen.“

Ein weiterer Effekt von großer Hitze auf die Wirkung von Arzneimitteln ist die erhöhte Verfügbarkeit von subkutan verabreichten Arzneistoffen, was etwa bei Menschen, die an Diabetes mellitus leiden, eine Anpassung der Insulindosierung erforderlich machen kann.

Kritisch werden kann eine Hitzewelle bei Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion: „Wenn diese Patienten dann nicht ausreichend trinken, können renal ausgeschiedene Pharmaka eine verlängerte Wirkung haben“, warnt Freissmuth.

Hutter sieht zusätzlich Aufklärungspotential beim Patienten hinsichtlich der Lagerung von Arzneimitteln im privaten Haushalt, da „vor allem flüssige Arzneimittel, Sprays, Zäpfchen und Wirkstoffpflaster empfindlich bei Hitze sind.“ Außerdem könnten Cremen und Salben die Konsistenz verändern, weil sich Fett- und Wasserphase auftrennen.

Vorbereitung bei Erstverschreibung

Hutter betont auch, dass es wichtig wäre, die Patienten schon in der Übergangszeit auf die Dosisanpassung vorzubereiten. Denn „wenn die Hitzewelle da ist, sollte bereits gehandelt werden“.  Ideal wäre es, schon bei der Erstverschreibung eines Arzneimittels darauf hinzuweisen, dass bei länger andauernder Hitze eine Anpassung der medikamentösen Einstellung vorgenommen werden muss. „Damit entwickelt der Patient das Bewusstsein, einen Arzttermin zu vereinbaren, wenn sich viele heiße Tage ankündigen.“ Gleichzeitig werde dadurch verhindert, dass Patienten eigenmächtig ihre Medikation ändern, etwa wenn der Blutdruck nach mehreren heißen Tagen stark abfällt. Einhergehen sollten laut Hutter auch generelle Empfehlungen, wie man mit der Hitze im Alltag umgeht: „Dazu zählen das kühle Fußbad, das Aufstellen von Ventilatoren oder die Optimierung der Flüssigkeitszufuhr. Aber auch soziale Aspekte fallen darunter – besonders vor dem Hintergrund, dass vor allem ältere Menschen in Hitzewellen ein erhöhtes Risiko für Depressionen aufweisen. Hier stellt sich die Frage, ob es eigentlich jemanden gibt, der nach dem Patienten sehen kann, wenn es mehrere Tage brütend heiß ist.“


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 /10.06.2023
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