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Geriatrie: Depression aggraviert Beschwerden

Lesezeit: 3 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Die Verweigerung von Essen und jeglicher Aktivität sowie das Klagen über Schmerzen und verschiedenste somatische Beschwerden können erste Anzeichen einer geriatrischen Depression sein. Diese kann typischerweise die schon vorhandenen somatischen Beschwerden aggravieren.

von Peter Bernthaler

Der Anteil der über 65-Jährigen in Österreich ist seit 2001 um 500.000 Personen auf aktuell rund 1,8 Millionen gestiegen. Sich mit geriatrischer Depression zu beschäftigen ist „keine Erfindung der 2020er-Jahre. Es handelt sich vielmehr um eine langsame Zunahme der Awareness gegenüber der Wichtigkeit älterer Patienten“, beschreibt Univ. Prof. Dietmar Winkler von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am AKH Wien die Situation. Mittlerweile müssten bei der Zulassung von neuen Medikamenten auch spezielle Studien für Patienten über 60 Jahren beigebracht werden. Winkler weiter: „Viele Randomized Controlled Trials/Studies für ‚Depression in the elderly‘ stammen aus der Zeit ab der Jahrtausendwende.“

Der Hausarzt ist oft die erste Anlaufstelle für ältere Patienten mit somatischen Komorbiditäten. Hier stehen häufig Screening-Mechanismen in Form von „Self rating“-Bögen zur Verfügung: So erlauben die Geriatric Depression Scale (wie zum Beispiel GDS-15) oder auch der PHQ-9 (Patient Health Questionnaire-9) ein rasches Screening auf depressive Symptome. In weiterer Folge kann der Allgemeinmediziner nachfragen und gegebenenfalls einen Verdacht aussprechen.

Als erste Anzeichen einer geriatrischen Depression gelten: Inappetenz, Essensverweigerung, ganz generell die Ablehnung jeglicher Aktivität, Klagen über Schmerzen sowie vermehrte Klagen über somatische Beschwerden. „Die somatischen Beschwerden sind bei jedem Patienten ganz individuell. Wenn er ein gewisses Portfolio an Beschwerden hat, aggraviert sich dieses typischerweise durch eine geriatrische Depression. Vielfach handelt es sich nicht um ein Neuauftreten komplett neuer Symptome, als dass eine schon bestehende Symptomatik schlechter wird“, so Winkler.

Es komme zu einem Verlust in den ADLs (Activities of Daily Living) des Patienten, häufig gepaart mit erhöhtem Pflegebedarf. Ist der Patient beispielsweise zuvor noch selbstständig zum Essen erschienen, bleibt er jetzt in seinem Zimmer, muss dazu motiviert werden, zum Essen zu gehen oder im Rollsessel zum Essplatz gebracht werden.

Depressive Patienten sind oft nicht mehr in der Lage, ihre Therapie aktiv durchzuführen. Die Regelmäßigkeit der Ernährung als auch der Medikation wird vernachlässigt. Diese verminderte Compliance, oft bedingt durch einen geringeren Antrieb des Patienten, ist laut Winkler „vor allem bei älteren Patienten eine massive Krux. Depressionen sind oft von kognitiver Verminderung begleitet, von Konzentrationsminderung und Merkfähigkeitsstörung. Das wird oft vom Umfeld bemerkt aber auch subjektiv vom Patienten selbst.“

Modell der systemischen Inflammation

Bei vielen Betroffenen kann die geriatrische Depression zu einer Aggravation der somatischen Symptome führen, vorbestehende Schmerzen nehmen bei einer Depression zu. Pathophysiologisch sei dies durch das Modell der systemischen Inflammation bei der Depression zu erklären, wonach die vermehrte systemische Inflammation bei zum Beispiel bereits vorliegendem „Back pain“ zur Zunahme der Beschwerden im Rahmen dieser Pathogenese führt. Weiters sind besonders bei älteren Patienten Ängste häufige Symptome im Rahmen einer Depression: Schätzungen gehen davon aus, dass es etwa bei 60 bis 70 Prozent der Patienten mit einer Depression gleichzeitig zu einer Zunahme der Ängste kommt. Liegen zusätzlich noch Unruhe oder Agitation vor, bezeichnet man das als Subtyp der ‚Agitierten Depression‘.

Die Geriatrische Depression ist in der ICD 10 nicht angeführt. Dazu Winkler: „Es gibt dafür keine spezielle Sub-Gruppe, so wie auch nicht die weibliche Depression, die Männerdepression oder die Depression bei Kindern ausgewiesen ist. Es wird nach wie vor auch in den modernen Kriterien nach Einzelepisoden und rezidivierenden Depressionen aufgelistet, sowie nach Schweregraden (leicht, mittel, schwer) unterschieden.“ Bis dato sei beispielsweise die psychotische Depression nur bei der schweren Depression zu klassifizieren: War jemand psychotisch, dann automatisch schwer. „Das ist mittlerweile bei der ICD 11 unabhängig davon, sodass sowohl bei mittelgradig als auch bei schwer der psychotische Feature-Specifier dazukommen kann“, führt der Experte aus.

Ebenso wie bei jüngeren Patienten sind auch bei älteren SSRI die First-line-Antidepressiva aufgrund ihrer unkomplizierten und guten Verträglichkeit. „Andere Substanzen, die man für das Alter erwähnen kann: Tianeptin ist sehr sehr unkompliziert von den Nebenwirkungen her. Vortioxetin hat erwiesenermaßen pro-kognitive Eigenschaften, wird aber leider von den Kankenkassen nicht bezahlt. Milnacipran ist vor allem bei gleichzeitigem Diabetes mellitus Mittel der Wahl. Es ist ein SNRI, wird nicht über die Leber metabolisiert. Hier gilt es immer die noradrenerge Komponenente zu berücksichtigen, ob es nicht zu einer Blutdruckbeeinflussung kommt, die vielleicht auch eine bestehende KHK negativ tangiert. Es gibt substanzspezifisch zu jeder Substanz Caveats sowie Vor- und Nachteile“, merkt Winkler an.

Die Kenntnis über Wechselwirkungen mit und Auswirkungen einer geriatrischen Depression auf Diabetes mellitus, Demenz, M. Parkinson oder Hypertonie ist fortgeschritten: Für Hypertonie oder kardiovaskuläre Erkrankungen generell ist beschrieben, dass es eine reziproke Verstärkung geben kann. Patienten mit einer geriatrischen Depression erleiden häufiger einen Myokardinfarkt. Umgekehrt weisen Patienten mit einem Myokardinfarkt häufiger eine Depression auf. Fazit von Winkler: „Psychiater genauso wie Kardiologen sollten die Erkrankungen des jeweils anderen Fachbereichs berücksichtigen und hier auf die jeweils verstärkende Schiene achten. Auch die Mortalität steigt bei diesen Patienten, die gleichzeitig diese Komorbiditäten haben, deutlich an.“

Substanzmissbrauch ist häufig

Fehlende Einbettung im Berufsleben und viel Freizeit begünstigen nicht selten einen problematischen Alkoholgebrauch. Substanzmissbrauch ist auch bei der geriatrischen Depression ein Thema: vor allem Alkohol und Nikotin. „Beide wirken kurzfristig sehr gut antidepressiv. Langfristig bewirken sie große Schäden, Alkohol in höheren Dosen ist zytotoxisch“, erläutert Assoc. Prof. PD Dr. Martin Aigner von der Klinischen Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am Universitätsklinikum Tulln. Aigner weiter: „Es ist häufig zu sehen, dass älteren Menschen mit Depressionsneigung die Kontrolle über den Alkohol entgleitet.“ Übermäßiger Alkoholkonsum führe dazu, dass die Leber zu wenig Vitamin B1 speichern kann. Durch diesen Mangel und den chronischen Alkohol-Abusus kann im Extremfall die Alkohol-Demenz, die man früher als ‚Korsakov-Syndrom‘ bezeichnete, entstehen. „Antidepressiva können mit wenig Alkohol eine zu stark aktivierende unruhig machende, oder mit Alkohol in höheren Dosen eine zu stark sedierende Wirkung haben“, führt der Experte weiter aus. Ebenso merkt er an, dass die Kombination von Alkohol mit Benzodiazepinen wegen Verstärkung der sedierenden Wirkung kontraindiziert ist (Problematik im Straßenverkehr).

Depression vs. Pseudodemenz

Ältere Patienten, die oft eine Antriebsstörung zeigen und kognitiv beeinträchtigt sind, kommen zu Hause nicht mehr zurecht, sind dadurch überfordert und ängstlich. Die Folge: Der Betroffene zieht sich zurück, wird mürrisch, es kommt zunehmend zu Konflikten mit den Angehörigen. Letztere vermuten eine Demenz. „Die Patienten erscheinen auf den ersten Blick kognitiv abgebaut und dement. Bei klinischer Betrachtung wird aber dennoch eine Depression erwogen. Das Antidepressivum führt nach zwei bis drei Wochen zu einer guten Verbesserung der kognitiven Symptome und reduziert den sozialen Rückzug. Dadurch kann die Demenz ausgeschlossen werden, wenn sich die kognitive Beeinträchtigung mit der Depression bessert. In diesem Fall sprechen wir von ‚Pseudodemenz‘“, so Aigner.

Eine weitere „noch ganz wichtige Facette“ der Altersdepression seit laut Winkler, dass „bei älteren Patienten die Suizidraten massiv in die Höhe gehen. Bei jüngeren Patienten haben wir eine geringere Suizidalität, bei den 65-Jährigen Plus steigt sie vor allem bei den Männern massiv in die Höhe, wobei sie bei den Frauen nur moderat steigt. Ältere Männer gehen am seltensten zum Arzt wegen Depressionen, nehmen am seltensten Psychotherapie in Anspruch und haben den höchsten Alkohol-Abusus.“ Alkohol führe hier zu gesteigerter Aggressivität und somit zur Enthemmung, den Suizid auch durchzuführen.


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 /10.11.2023
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