Medizin & Wissenschaft

Gestationsdiabetes: Insulintherapie individuell beginnen

Lesezeit: 3 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Bei nahezu jeder zweiten Frau mit einem Gestationsdiabetes kommt es innerhalb von zehn Jahren zu einem manifesten Diabetes, wenn die Lebensstilfaktoren nicht entsprechend modifiziert werden. Die Entscheidung über den Beginn einer Insulintherapie erfolgt individuell, wobei es bei insgesamt guter Therapieadhärenz möglich ist, Woche um Woche zuzuwarten.

von Martin Schiller

Für viele Frauen ist die Diagnose Gestationsdiabetes ein Schock, oftmals ist es die erstmalige Konfrontation mit „Diabetes“. Ist eine Insulintherapie indiziert, gesellt sich die Angst vor der Therapie selbst und manchmal auch vor Nadeln hinzu. „Durch gute Schulung und Aufklärung gelingt es aber, diese Sorgen und Ängste zu nehmen. Zu 90 bis 95 Prozent schaffen wir es, die Patientin davon zu überzeugen, dass die Insulintherapie für Mutter und Kind zu diesem Zeitpunkt die optimale Lösung ist“, berichtet Lisa Frühwald von der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie an der Klinik Ottakring in Wien.

Vor einer Insulintherapie stehen zunächst jedoch die regelmäßige Selbstmessung des Blutzuckerspiegels und eine Lebensstilmodifikation. Die Betroffenen sollten hohe Mengen an schnell resorbierbaren Kohlenhydraten aus Säften, Früchten und Nudeln in der täglichen Ernährung meiden. „Es empfiehlt sich auch, Kohlenhydratportionen zu komplexieren, also mit Protein oder Fett zu verbinden, damit die Aufnahme ins Blut verlangsamt wird“, rät Assoc. Prof. Yvonne Winhofer-Stöckl von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel an der Universitätsklinik für Innere Medizin III der Medizinischen Universität Wien. Wöchentlich wird außerdem Bewegung empfohlen: an die individuelle Situation angepasst im Ausmaß von 150 Minuten mit moderater Intensität. Die Blutzucker-Selbstmessung sollte in Form von mindestens vier Messungen täglich (nüchtern, eine Stunde postprandial) nach entsprechender Schulung erfolgen.

Die Entscheidung über den Zeitpunkt einer Insulintherapie erfolgt individuell, wobei die Biometrie des Fetus und das Gewicht der Mutter eine wesentliche Rolle bei der Insulindosisfindung spielen. Eine Evaluierung der Situation erfolgt innerhalb von wenigen Tagen bis zu drei Wochen statt, wie Frühwald erläutert: „In dieser engmaschigen Betreuung finden wir im Anamnesegespräch immer wieder Ernährungsfehler wie nächtliches Naschen. Nach diätologischer Nachschulung und bei insgesamt guter Therapieadhärenz können die Blutzuckerwerte optimiert und mit einer Insulintherapie zugewartet werden.“ Winhofer-Stöckl nennt eine Blutzucker-Richtmarke als Kriterium. Demnach sollte der Blutzucker eine Stunde nach der Mahlzeit unter 140 mg/dl liegen. „Wird dieser Wert fünfmal pro Woche überschritten, ist der Beginn einer Insulintherapie empfohlen.“ Bei einem Nüchtern-Blutglukosewert von über 110 mg/dl sollte sofort mit einer Insulintherapie begonnen werden.

Diagnosekriterien

Die Diagnose des Gestationsdiabetes erfolgt in der 24. bis 28. Schwangerschaftswoche mit einem oralen Glukosetoleranztest (oGTT, 75 Gramm Glukose) oder durch Bestimmung der Nüchternplasmaglukose. Bei Risikopersonen soll ein HbA1c, eine Nüchtern- oder Spontanglukose und eventuell auch ein oGTT bereits im ersten Trimenon durchgeführt werden. Ein GDM liegt laut den Internationalen Konsensuskriterien vor, wenn die Plasmaglukose nüchtern ≥ 92 mg/dl, nach 60 Minuten ≥ 180 mg/dl oder nach 120 Minuten ≥ 153 mg/dl liegt. Bereits ein einziger erhöhter Wert reicht für die Diagnose aus.

Immer öfter vor 20. Schwangerschaftswoche

Risikofaktoren für die Entwicklung eines Gestationsdiabetes sind etwa eine diesbezügliche Anamnese, makrosome Kinder bei früheren Geburten, Übergewicht, Adipositas und Prädiabetes vor Beginn der Schwangerschaft. „In den vergangenen Jahren ist eine steigende Tendenz zu Gestationsdiabetes vor der 20. Schwangerschaftswoche zu beobachten, weil mehr Frauen bereits vor der Schwangerschaft eine beeinträchtigte Glukosetoleranz im Rahmen eines Prädiabetes oder PCO-Syndroms haben“, sagt Winhofer-Stöckl. Sie rät bei übergewichtigen Frauen und familiärer Vorbelastung mit Typ 2-Diabetes zur Messung der Nüchtern-Plasmaglukose und des HbA1c bereits in der achten bis elften Schwangerschaftswoche. Bei Gestationsdiabetes in einer früheren Schwangerschaft ist der oGTT zwischen der elften und 13. Woche vorgeschrieben. Werden in der Frühschwangerschaft (vor der 20. Woche) besonders hohe Blutzuckerwerte ermittelt, liegt laut Winhofer-Stöckl meist kein Gestationsdiabetes vor, sondern ein präkonzeptionell bestehender Diabetes mellitus, der nun im Zuge der Schwangerschaft erkannt worden ist.Kadriye Aydinkoc-Tuzcu, ebenfalls von der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie an der Klinik Ottakring Wien, nennt einen weiteren Risikofaktor für die Entwicklung eines Gestationsdiabetes: die Ethnizität. „Vor allem bei Frauen mit Migrationshintergrund aus Süd- und Südostasien, Nahost und Zentralasien sowie der pazifischen Region und Südamerika ist das Risiko deutlich erhöht.“

Die Diagnose Gestationsdiabetes erlaubt laut Winhofer-Stöckl Aussagen über eine gewisse Veranlagung für metabolische Erkrankungen: „Sie demaskiert sowohl bei schlanken als auch bei übergewichtigen Frauen ein erhöhtes Risiko für Typ 2-Diabetes.“ Würden entsprechende Maßnahmen frühzeitig gesetzt, sei es möglich, das Auftreten der Erkrankung zu verschieben oder gar zu verhindern. Frühwald beschreibt Gestationsdiabetes als eigenständigen Risikofaktor: „Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes haben ein stark erhöhtes Risiko für die Entwicklung eines Typ 2-Diabetes und ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko im Lauf ihres Lebens. Gewichtsreduktion, gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung sind daher auch zur Vorbeugung von späteren metabolischen Problemen essentiell.“ Laut Aydinkoc-Tuzcu kann es bei einem Drittel bei bis zur Hälfte der Frauen mit einem Gestationsdiabetes innerhalb von zehn Jahren zu einem manifesten Diabetes kommen, wenn die Lebensstilfaktoren nicht modifiziert wurden – besonders Übergewicht und Adipositas.

Sind die Blutzuckerwerte nach der Geburt im Normbereich, ist vorläufig keine Selbstmessung des Blutzuckers mehr nötig. Hier kommt der Nachsorge nun ein großer Stellenwert zu, wie Frühwald betont. Der aktuellen Gestationsdiabetes-Leitlinie zufolge soll der orale Glukosetoleranztest nach ein bis drei Monaten wiederholt werden. „Ist der oGTT unauffällig, sollte er dennoch alle zwei bis drei Jahre wiederholt werden oder zumindest eine Bestimmung des HbA1c-Werts und der Nüchternglukose erfolgen, um Prädiabetes oder Typ 2-Diabetes frühzeitig zu erkennen“, führt Frühwald aus. Die Empfehlung für eine entsprechende Nachsorge werde in jedem Entlassungsbrief nach der Entbindung ausgesprochen.

Beherzigt wird die Empfehlung allerdings noch zu selten, wie Aydinkoc-Tuzcu berichtet: „In der Praxis sieht man die Patientinnen meistens nicht mehr, sofern sie nicht mit einem manifesten Diabetes zu einem späteren Zeitpunkt wieder vorstellig werden oder im Rahmen der nächsten Schwangerschaft erneut einen Gestationsdiabetes haben.“


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© Österreichische Ärztezeitung Nr.21 /10.11.2023
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