Medizin & Wissenschaft
Panikattacken: Hilflosigkeit und Kontrollverlust
Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Massive Angst mit vegetativen Symptomen verursachen bei einer Panikattacke vor allem Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Charakteristisch dabei: die Dissonanz zwischen Situation und körperlicher Reaktion. Bei Anwesenheit einer anderen Person bessern sich die Symptome meist innerhalb von 30 Minuten.
von Julia Fleiß
Typisch für eine Panikattacke ist das plötzliche, situationsunabhängige Auftreten von massiver Angst in Kombination mit vegetativen Symptomen – ohne spezifischen Auslöser. Die drei Ebenen der Angstreaktion sind:
1) Die körperlich-physiologische Ebene mit den somatischen Symptomen Tachykardie, Atembeschleunigung, steigendem Muskeltonus, Tremor, Diaphorese, Parästhesien und Hitzeempfindungen.
2) Die emotional-kognitive Ebene manifestiert sich als Furcht vor einer Krankheit bis zur Todesangst.
3) Als dritte Ebene stellt sich Behavioral-verhaltensbezogen bei den Betroffenen ein Vermeidungs- und Rückzugsverhalten aus Angst vor der nächsten Panikattacke ein.
Die Dauer einer Panikattacke variiert zwischen einigen Minuten bis zu durchschnittlich einer halben Stunde; sie kann aber auch bis zu zwei Stunden anhalten. Dazu Univ. Prof. Wolfgang Aichhorn von der Universitätsklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Salzburg: „Angst oder Panik ist als biologisch angelegtes Reaktionsmuster die Voraussetzung für das Überleben des Menschen“. Dadurch werden vor allem Hilflosigkeit und Kontrollverlust hervorgerufen. Eine Panikattacke bleibt unbehandelt selten ein einmaliges Ereignis. Erst bei episodisch paroxysmaler Angst spricht man von einer Panikstörung. „Es gibt auch Menschen, bei denen Panikattacken mehrmals täglich auftreten“, weiß Priv. Doz. Thomas Vanicek von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. Er weist außerdem darauf hin, dass zwischen dem ersten Auftreten von Symptomen und der Diagnose „Jahre liegen können“. Standardisierte Screeningtools wie die Panic Disorder Severity Scale (PDSS) können bei Verdacht auf eine Panikstörung verwendet werden.
Symptomatik tritt punktuell auf
Es komme „nicht selten“ vor, dass ein Patient mit einer akuten Panikattacke in der Notfallambulanz mit Verdacht auf Myokardinfarkt aufgenommen wird. Somatische Ursachen wie Schilddrüsenfunktionsstörung, Lungenembolie oder kardiale Erkrankungen sind mittels Laborbefund, bildgebender Diagnostik und EKG auszuschließen. Aichhorn dazu: „Man geht im Sinn der Schichtenregel von Karl Jaspers vor“. Gemäß dieser Regel sind psychische Erkrankungen von organischen über affektive Störungen bis hin zu Neurosen in Schichten angeordnet. Jede „tiefer liegende“ Erkrankung könne das Erscheinungsbild der darüber liegenden annehmen. Dennoch gebe es laut Aichhorn eindeutige Hinweise auf die Diagnose: „Ist die Panikattacke akut, bessern sich die Symptome meist innerhalb von 30 Minuten allein durch die Anwesenheit eines anderen Menschen.“ Kommt der Betroffene erst nach dem Durchleben einer Panikattacke in die Ordination, „liegt die Symptomatik im Gespräch nicht vor. Die Betroffenen beschreiben das Erlebte aber ganz klassisch.“ Was sie dabei als so erschreckend empfinden: „Durch die Tachykardie wird die Kontrolle des präfrontalen Cortex ausgeschaltet.“ Charakteristisch für die Panikattacke ist die Dissonanz zwischen Situation und körperlicher Reaktion. Es kommt zu einer weiteren Überstimulation, die bei den Betroffenen zu Kontrollverlust und Hilflosigkeit bis hin zu Todesangst führt.
Stellt sich heraus, dass die Panikattacke eine psychische Genese hat, werden im Akutfall Benzodiazepine eingesetzt. Hier raten jedoch beide Experten zur Vorsicht. „Auf dem kurzfristigen Erfolg dieser Maßnahme sollte man sich nicht ausruhen, weil eine fortdauernde Einnahme eher zu Problemen als zu einer Verbesserung führt“, warnt Vanicek vor einem Gewöhnungseffekt und dem Suchtpotential. Vor einer psychotherapeutischen und/oder pharmakologischen Therapie müssen bei Panikattacken und der Panikstörung Komorbiditäten abgeklärt werden. „Im klinischen Kontext treten Panikattacken nicht selten in Kombination mit Agoraphobie, einer generalisierten Angststörung, Depression oder einer Suchterkrankung auf“, erklärt Aichhorn, was die Behandlung „komplexer“ mache.
Laut Aichhorn gibt es eine gute Evidenz dafür, dass das serotonerge System mit der Entstehung von Angst zusammenhängt. Daher werden besonders bei der Panikstörung für die Langzeittherapie SSRIs eingesetzt, die auch angstlösend wirken, oder SNRIs. Den singulären pharmakologischen Ansatz hält Aichhorn aber für problematisch: „Bei allen Erkrankungen aus dem Angstformenkreis sollte eine Kombination aus psychotherapeutischen und wenn notwendig pharmakologischen Behandlungen erfolgen.“ Vanicek spricht sich für eine möglichst niedrige Dosis im Sinn von „start low – go slow“ aus. Beide Experten bezeichnen Psychoedukation als entscheidenden Therapiefaktor. „Der Betroffene muss wissen, dass eine Panikattacke keine organischen Schäden nach sich zieht und nicht zum Tod führt“, sagt Vanicek. Es gebe gute evidenzbasierte Daten, dass sich ein theoretischer Lernhintergrund im Sinne der Konditionierung positiv auswirke. „Der Betroffene soll verstehen, was im Körper passiert: was ist Verhalten, was ist Denken, was sind körperliche Symptome“, erklärt Aichhorn.
Panikattacken: die Details
Die Lebenszeitprävalenz von Panikattacken beziehungsweise isolierten Panikstörungen liegt bei einem bis zwei Prozent. Am weitesten verbreitet im Formenkreis der Angststörungen sind soziale Phobie sowie spezifische Phobien. Danach folgen zahlenmäßig die Agoraphobie und die generalisierte Angststörung – oft auch als Komorbidität der Panikattacke. Ganz generell sind Frauen häufiger betroffen.
Pharmakologische Therapie
SSRIs: Sertralin, Escitalopram
SNRIs: Venlafaxin, Duloxetin, Milnacipran
Eine Latenzzeit von zwei bis vier Wochen ist zu berücksichtigen. Ebenso wie bei der Behandlung der Depression wird auch nach einer Remission die Therapie für sechs bis zwölf Monate fortgesetzt, bis ein Auslassversuch erfolgt.
Panikattacke und körperliche Mechanismen Angst und Panik sind biologisch angelegte Reaktionsmuster, die bei einer Panikattacke plötzlich und ohne direkten Auslöser auftreten, um den Körper auf Flucht oder Angriff vorzubereiten (Flight-or-fight-response).
Ein Alarmsignal oder Trigger aktiviert über Botenstoffe das limbische System. Über Amygdala und Hypothalamus veranlasst kommt es zur Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin im Nebennierenmark. Via Sympathikus und Blut erfolgt binnen kürzester Zeit die Umstellung des Körpers auf die physiologischen Bedürfnisse einer Alarmreaktion: Anstieg von Puls, Blutdruck, Muskeltonus und Zuckerspiegel, Beschleunigung der Atemfrequenz.
Bei der Verhaltenstherapie geht man dem zugrundeliegenden Auslöser der Panikattacke nach. Panikattacken können – müssen aber nicht – einen lange zurückliegenden Auslöser haben, wie Aichhorn aus der Praxis berichtet. Auch traumatische Erlebnisse aus der Kindheit, die durch ein aktuelles Ereignis getriggert werden, kommen in Frage. Vanicek sieht in kognitiven Therapieverfahren und der Reattribution der körperlichen Missempfindungen die therapeutische Lösung. Konkret werden Körperprozesse wie steigende Herzfrequenz oder Transpiration durch körperliche Betätigung hervorgerufen und als nicht katastrophierend eingestuft. „Man kann sich gezielt in Situationen bringen, in denen der Körper mobilisiert wird, ohne dass es zu negativen Bewertungen oder Panik kommt.“ So werden laut Vanicek „körperliche Prozesse als normale Reaktionen neu abgespeichert.“
Beide Spezialisten weisen auf die Bedeutung von Entspannungstraining hin. „Das Ziel ist generelle Stressreduktion“, betont Vanicek. Denn „je mehr Stress man ausgesetzt ist, umso eher kommt es zu unangenehmen Reaktionsmustern mit Störungscharakter.“
Bildquellen & Copyright
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 /10.05.2023
Unsplash #qL0t5zNGFVQ Urheber: Simran Sood
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