Medizin & Wissenschaft

Chronifizierung des Rückenschmerzes: Risikofaktoren frühzeitig erfassen

Lesezeit: 5 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Erhöhung der Schmerzmedikation, sozialer Rückzug und lange Krankenstände sind deutliche Anzeichen dafür, dass sich ein akutes Rückenschmerzgeschehen chronifiziert. Der akute Schmerz sollte Experten zu Folge von Beginn an multimodal therapiert werden.

von Martin Schiller

Der Schritt vom akuten zum chronischen Rückenschmerz ist in den meisten Fällen multifaktoriell begründet. Wesentliche Risikofaktoren sind psychosozialer oder arbeitsbezogener Natur. „Die psychosozialen Risikofaktoren sind ‚yellow flags‘. Darunter fallen Ängste, Distress, Schlafstörungen, ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und chronische Konflikte im persönlichen Umfeld“, sagt Priv. Doz. Christoph Stihsen von der Universitätsklinik für Orthopädie an der Medizinischen Universität Wien. Bei Patienten in dieser Verfassung würde eher eine Tendenz zur Chronifizierung des zunächst akuten Rückenschmerzes bestehen. Eine Überschneidung mit psychosozialen Aspekten haben die „blue flags“, die arbeitsbezogene Risikofaktoren abbilden. „Ein Beispiel dafür ist Mobbing am Arbeitsplatz. Auch eine negative Erwartungshaltung, mit der man in die Arbeit geht, spielt eine Rolle“, führt Stihsen aus. Andere Risikofaktoren am Arbeitsplatz seien das Heben und Tragen schwerer Lasten sowie eine monotone Körperhaltung. Auch Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Faktor für eine Chronifizierung, wie Univ. Prof. Christoph J. Griessenauer, Vorstand der Universitätsklinik für Neurochirurgie am Uniklinikum Salzburg, ausführt: „Menschen, die aktiv im Berufsleben stehen, haben nach einem akuten Rückenschmerz meist eine bessere Prognose.“ Die Chronifizierung sei häufig eine Folge davon, dass ein akutes, die Problematik auslösendes Schmerzevent nicht adäquat adressiert wird. Es gelte daher, mit hoher Priorität die Entwicklung vom akuten zum chronischen Schmerzgeschehen früh zu erkennen, auch um die Ausbildung eines Schmerzgedächtnisses zu unterbinden. Stihsen rät, bei vier bis sechs Wochen anhaltenden Rückenschmerzen psychosoziale und arbeitsbezogene Risikofaktoren abzufragen. Bei der Einschätzung helfen Scores (siehe Kasten). Zudem sollte die Notwendigkeit einer Bildgebung wie etwa Röntgen und MRT geprüft werden; eine wiederholte Bildgebung ohne

Änderung der Beschwerden solle nicht erfolgen.

Ursache für chronische und wiederkehrende Rückenschmerzen können auch Morbus Bechterew und – bei Jugendlichen – Morbus Scheuermann sein. „Am häufigsten ist jedoch der unspezifische Rückenschmerz, der keine zugrundeliegende Erkrankung als Korrelat hat“, sagt Stihsen.

Scores zur Ermittlung von Risikofaktoren

Der „Work ability index“ (WAI) ermittelt unter anderem die derzeitige und anforderungsbezogene Leistungsfähigkeit, die Beeinträchtigung der Arbeitsleistung, die prospektive Arbeitsfähigkeit und die psychische Leistungsreserve. Zur Ermittlung psychosozialer Risikofaktoren dienen die „Risk Analysis of Back Pain Chronification“ (RISC-BP) und der „Örebro Musculoskeletal Pain Screening Questionnaire“ (ÖMPSQ). RISC-BP hat Depressivität, schmerzbezogene Kognitionen und Schmerzverhalten/Durchhalteverhalten zum Gegenstand. ÖMPSQ bezieht sich auf die fünf Bereiche Schmerzintensität, Angstvermeidungsüberzeugung, Depressivität, Funktionsbeeinträchtigungen im Alltag und Schmerzlokation.

Frühe Anzeichen der Chronifizierung

Die Einstufung „chronischer Rückenschmerz“ wird nach einem Zeitraum von zwölf Wochen getroffen; zwischen Woche sechs und Woche zwölf wird der Schmerz als subakut eingestuft. 85 Prozent der Bevölkerung haben mindestens einmal im Leben Rückenschmerzen; sieben von 100 Patienten entwickeln daraus chronische Schmerzen, Frauen tendentiell häufiger als Männer. Manche Anzeichen für eine beginnende Chronifizierung sind laut Griessenauer indirekter Art: „Die Patienten reduzieren ihr soziales Leben und ziehen sich sukzessive aus dem Berufsleben zurück – Stichwort Langzeitkrankenstand.“ Daraus könne sich eine Abwärtsspirale entwickeln. Der Experte nennt ein weiteres Indiz: „Die Schmerzmedikation sollte nach dem akuten Ereignis Schritt für Schritt reduziert werden, stattdessen hat der Patient mit chronifizierendem Schmerz das Bedürfnis, sie zu erhöhen.“ Zudem schaffen es Patienten mit beginnender Chronifizierung seiner Schilderung nach oft schwer, ihren Lebensstil umzustellen. Manchmal würde der Schmerz initial eher mitgetragen, wodurch eine Einleitung konsequenter Schritte ausbleibe. „Wichtig ist es, den akuten Schmerz sofort aggressiv zu therapieren. Das bedeutet medikamentöse Schmerztherapie, Physiotherapie, Stärkung der Rumpfmuskulatur und Optimierung des Lebensstils“, betont der Experte. Als Lifestyle-Risikofaktoren nennt er Übergewicht, Rauchen, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel.

In der Österreichischen Leitlinie für das Management akuter, subakuter, chronischer und rezidivierender unspezifischer Kreuzschmerzen (2018)* ist in der medikamentösen Therapie eine stufenweise Dosistitration der Medikation mit der geringsten effektiven Dosierung empfohlen. Zur Behandlung unspezifischer Rückenschmerzen sollen NSAR in der am niedrigsten wirksamen Dosierung kurzzeitig zum Einsatz kommen. Eine perorale Gabe ist einer parenteralen Gabe vorzuziehen. Sind NSAR kontraindiziert oder werden nicht vertragen, können COX-2-Hemmer oder, so kurzzeitig als möglich, Metamizol angewendet werden. Paracetamol sollte laut Leitlinie hingegen nicht zum Einsatz kommen. Bei fehlendem Ansprechen auf die genannten Arzneistoffe können Opioide angewendet werden. „Der Einsatz von Opioiden ist allerdings aufgrund des Toleranz- und Abhängigkeitspotentials bei längerfristiger Einnahme mit großer Vorsicht durchzuführen. Man sollte versuchen, sie möglichst schnell nach dem Akutschmerz wieder abzusetzen“, betont Griessenauer.

Stärkung der Muskeln um die Wirbelsäule

Beide Experten streichen den Wert nichtpharmakologischer Maßnahmen heraus. „Es ist in keinem Stadium zu spät, diese Maßnahmen durchzuführen. Hier ist der Einsatz des Patienten gefordert“, sagt Griessenauer. Er beobachte bei vielen Patienten mit chronischen Rückenschmerzen eine Degeneration der autochthonen Muskulatur rund um die Wirbelsäule. „Die Stabilität des Muskelstrangs um die Wirbelsäule ist aber ein ganz wichtiger vorbeugender Faktor gegen den Schmerz und natürlich auch gegen Abnützungen der Bandscheiben“, erklärt der Experte. Manchmal würden starke Schonhaltungen sogar dazu führen, dass die Muskeln asymmetrisch atrophieren. Von kompletter Schonung oder Bettruhe bei Rückenschmerzen raten beide Experten daher dezidiert ab. „Vor allem Personen mit psychosozialen Risikofaktoren und Angst vor wiederkehrenden Schmerzen tendieren dazu, Bewegung stark zu reduzieren. Sport und Bewegung sollen aber jedenfalls gemacht werden“, erklärt Stihsen. „Der Schmerz wird medikamentös soweit kontrolliert, dass eine gewisse Aktivität möglich ist. Diese sollte so stattfinden, dass der Schmerz nicht verstärkt wird“, ergänzt Griessenauer. Empfohlen sind Schwimmen, Fahrradfahren, Nordic Walken und Gehen. Studiendaten gibt es auch zu Bouldern und Klettern, was laut Stihsen für jüngere Patienten eine gute Empfehlung darstellt und sehr zur Stabilisierung der Rückenmuskulatur beiträgt. Vom Laufen wird eher abgeraten, weil es zu einer akuten Krafteinwirkung auf die Rückenachsen kommt. Auch Kontaktsportarten sollten vermieden werden.

*) Update der evidenz- und konsensbasierten Österreichischen Leitlinie für das Management akuter, subakuter, chronischer und rezidivierender unspezifischer Kreuzschmerzen 2018 – Kurzbezeichnung Leitlinie Kreuzschmerz 2018, Bundesministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz, Langfassung 1. Auflage, Version 1, 2018


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