Medizin & Wissenschaft
USA: Diabetes bei Kindern – Rasanter Anstieg
Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
In den USA ist die Zahl der neu diagnostizierten Typ 2-Diabetesfälle bei Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie um 77 Prozent gestiegen – mit zum Teil wesentlich schwereren Symptomen. Wie so oft in den USA sind vor allem die Kinder, deren Eltern einer ethnischen Minderheit angehören, und jene aus sozial schwächeren Familien betroffen.
von Nora Schmitt-Sausen
Einen Anstieg um 77 Prozent bei den Neudiagnosen von Typ 2-Diabetes meldeten Forscher der John Hopkins Children’s Center in Baltimore/Maryland und der University of Colorado School of Medicine im Spätsommer 2022. Für ihre Studie verglichen sie das Auftreten von neu diagnostiziertem Typ 2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen acht und 21 Jahren zwischen März 2018 bis Februar 2019 mit den Fallzahlen im ersten Pandemiejahr von März 2020 bis Februar 2021. Der Studie lagen die Krankendaten von 3.113 Kindern und Jugendlichen aus 24 Diabetes-Kliniken in den USA zugrunde.
Zu den Ursachen äußerten sich die Forscher zurückhaltend: Es sei unklar, ob eine Infektion mit dem Corona-Virus für den Anstieg verantwortlich ist und wahrscheinlich, dass der veränderte Alltag der Kinder während der Pandemie eine Rolle spielte, hieß es bei der Vorstellung der Forschungsergebnisse. „Während des COVID 19-Lockdowns wurden Kinder aus ihren normalen Alltagsroutinen wie Schulbesuch, Sport und anderen Hobbys gerissen“, so der Kommentar von Assoc. Prof. Sheela N. Magge, Leiterin der Abteilung pädiatrische Endokrinologie der Johns Hopkins Pediatrics in Baltimore. „Sie waren nicht nur weniger körperlich aktiv, sie mussten auch zu Hause bleiben und verbrachten viel mehr Zeit damit, fernzusehen, Videospiele zu spielen oder vor anderen elektronischen Geräten zu sitzen.“ Betroffen waren vor allem Latinos und afro-amerikanische Kinder und damit – wie so oft in den USA – Kinder, deren Eltern Angehörige von ethnischen Minderheiten sind, und jene, die aus sozial schwächeren Familien stammen.
Auch bei der Schwere des Typ 2-Diabetes werden die dramatischen Auswirkungen der Pandemie deutlich. Forscher des Pennington Biomedical Research Center in Baton Rouge Louisiana analysierten für ihre Untersuchung die Krankenhauseinweisungen in einem lokalen Krankenhaus. Dabei zeigte sich bereits im Sommer 2021 bei der Rate der Krankenhausaufenthalte bei neu auftretendem Typ 2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen, dass sich diese während der Corona-Pandemie mehr als verdoppelt hatte. Auch gab es mehr ernste Fälle als vor der Pandemie: Kinder, die im Jahr 2020 wegen Typ 2-Diabetes aufgenommen wurden, hatten schwerere Symptome als die Kinder, die 2019 aufgenommen wurden. Als ein zentraler Grund wird die verzögerte medizinische Versorgung während der Pandemie genannt. Kontroversieller wurde und wird noch immer diskutiert, ob Kinder und Jugendliche durch eine COVID 19-Infektion ein erhöhtes Risiko haben, an Typ 1-Diabetes zu erkranken.
Studienergebnisse von Wissenschaftern der Case Western Reserve School of Medicine in Cleveland/Ohio, die im September 2022 in JAMA Network Open veröffentlicht wurden, deuten darauf hin: Demnach waren junge Menschen sechs Monate nach einer COVID-Diagnose anfälliger für die Entwicklung von Typ 1-Diabetes. Die Wissenschafter untersuchten die Daten von mehr als einer Million Kinder und Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr in den USA und 13 anderen Ländern, bei denen zwischen März 2020 und Dezember 2021 eine SARS-CoV-2-Infektion diagnostiziert wurde. Dazu analysierten sie die Daten von Patienten, die im selben Zeitraum eine andere Art von Atemwegsinfektion hatten. Ergebnis: ein 72-prozentiger Anstieg der Neudiagnosen von Typ 1-Diabetes bei COVID 19-Patienten. Gesundheitsexperten betonen, dass weitere Studien über einen längeren Zeitraum mit konsistenten und großen Datenmengen erforderlich seien, um endgültig Klarheit zu schaffen.
Doch besonders für die USA sind die derzeitigen Erkenntnisse keine guten Nachrichten. Die Corona-Pandemie befeuert damit wohlmöglich ein Problem, das im Land ohnehin schon große Sorgen macht: die starke Zunahme von Diabetes bei Kindern. Im Sommer 2021 meldeten die Centers for Disease Control and Prevention (CDC), dass die Zahl der diagnostizierten Fälle von Typ 1-Diabetes bei unter 20-Jährigen um 45 Prozent gestiegen ist; bei Typ 2-Diabetes um 95 Prozent. Erneut werden große Unterschiede innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerung deutlich: Typ 1-Diabetes kommt bei weißen Jugendlichen nach wie vor häufiger vor als bei Jugendlichen aus anderen ethnischen Gruppen. Anders hingegen verhält es sich bei Typ 2-Diabetes: Hier sind Heranwachsende von ethnischen Minderheiten häufiger betroffen als weiße Kinder und Jugendliche. „Die Zunahme von Diabetes ist immer besorgniserregend – vor allem bei jungen Menschen. Steigende Raten von Diabetes, insbesondere von Typ 2-Diabetes, der vermeidbar ist, haben das Potential, eine Kaskade von schlechten gesundheitlichen Folgen auszulösen“, so der Kommentar von Giuseppina Imperatore von der Division of Diabetes Translation der CDC.
Düstere Prognose
Sollten sich aktuelle Trends und Lebensgewohnheiten nicht ändern, wird für den Zeitraum bis 2060 in den USA ein weiterer dramatischer Anstieg bei den Neudiagnosen von Diabetes mellitus – besonders Typ 2 – bei Kindern und Jugendlichem vorausgesagt. Laut einer offiziellen Erhebung werden im Jahr 2060 in den USA 220.000 der unter 20-Jährigen an Typ 2-Diabetes leiden, was einem Anstieg um fast 700 Prozent im Vergleich zum Jahr 2017 entspricht.
Auch bei Typ 1-Diabetes geht man von einer weiteren Zunahme der Fallzahlen aus: Hier könnte die Zahl der neu diagnostizierten Erkrankungen in den nächsten 40 Jahren um 65 Prozent steigen. Bestätigen sich die Prognosen, könnten in naher Zukunft mehr als eine halbe Million Heranwachsende in den USA an Typ 1- oder Typ 2-Diabetes leiden.
Diese Prognose greift auf Daten der Centers for Disease Control and Prevention und der National Institutes of Health zurück; die entsprechende Studie über die Krankheitslast von Diabetes mellitus erschien im Dezember 2022 in „Diabetes Care“. Als Gründe für die Entwicklung werden vor allem zunehmendes Übergewicht bei Kindern, fehlender Zugang zu gesundem Essen und Bewegungsmangel genannt.
Auch die Tatsache, dass immer mehr US-Amerikanerinnen im gebärfähigen Alter an Diabetes mellitus leiden, wirkte sich hier aus.
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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 /25.06.2023
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