Medizin & Wissenschaft

Angina pectoris: Korrelation fehlt

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Jeder Zweite mit einer Angina pectoris weist keine Koronarstenosen auf; die Ursachen sind verstärkte Neigung zur Vasokonstriktion oder reduzierte Fähigkeit zur Vasodilatation. Ebenso fehlt die Korrelation zwischen der Brustschmerz-Symptomatik und dem Schweregrad der diagnostizierten Ischämie.

Im Zuge der aktuellen ESC-Leitlinie wurde neben den Neuerungen zu Diagnose und Management auch eine neue Terminologie für die Phasen der Koronaren Herzkrankheit (KHK) eingeführt. Demnach werden die instabilen Phasen nun als „akutes Koronarsyndrom“ (ACS) bezeichnet und in Analogie dazu die chronische Form als chronisches Koronarsyndrom (CCS). Der Grund: Die Forscher vermuten schon seit Längerem, dass eine chronische Gefäßentzündung die pathogenetische Endstrecke von kardiovaskulären Faktoren darstellt. „Daher war auch die Bezeichnung ‚stabile‘ koronare Herzkrankheit irreführend, denn sie stellt eine progrediente Erkrankung mit wiederkehrenden kardiovaskulären Ereignissen dar“, erklärt Priv. Doz. Stefan Aschauer von der Abteilung für Innere Medizin im Franziskus Spital Margareten in Wien. Daher erfolgte die Umbenennung in chronisches Koronarsyndrom, um dem chronischen, aber beeinflussbaren Prozess der Atherosklerose Rechnung zu tragen. Gleichzeitig mit der Umbenennung wurde auch eine Neudefinition der Krankheitsbilder vorgenommen (siehe Kasten). Dem chronischen Koronarsyndrom gegenüber steht das akute Koronarsyndrom (ACS) mit den drei Entitäten STEMI, NSTEMI und instabile Angina pectoris.

Etwa die Hälfte aller Personen mit einer Angina pectoris, bei denen eine Koronarangiographie durchgeführt wird, weist keine obstruktive koronare Herzerkrankung (ANOCA) auf. Bei diesen ANOCA-Patienten ist eine verstärkte Vasokonstriktionsneigung der Koronargefäße oder eine reduzierte Vasodilatationsfähigkeit die Ursache der Beschwerden. „Im Katheterlabor, wenn eine obstruktive KHK ausgeschlossen ist, wäre die Messung der koronaren Flussreserve, des koronaren Widerstandes und falls vorhanden mit Erfahrung, ein provozierender Test mit Acetylcholin eine Option, um eine definitive Diagnose stellen zu können“, so Aschauer. In der Regel trete diese Form der Angina pectoris häufiger bei Frauen auf. „Rund ein Viertel der Frauen leidet daran“, bestätigt Aschauer, der weiter ausführt: „Als Auslöser sind verschiedene pathophysiologische Mechanismen wie beispielsweise die mikrovaskuläre Dysfunktion, die Endotheldysfunktion oder Vasospasmen zu nennen.“ Außerdem scheinen Faktoren wie mentaler oder emotionaler Stress, der Einfluss des autonomen Nervensystems, die individuelle Schmerzsensitivität und die Sauerstoffkapazität im Blut eine Rolle zu spielen. Aktuellen Studien zufolge sind außerdem die zeitlichen Schwankungen von Angina-pectoris-Beschwerden und Ischämien im Stresstest signifikant stärker als bei KHK-Patienten mit Koronarstenosen. Auch fehlt eine Korrelation zwischen der Brustschmerz-Symptomatik und dem festgestellten Schweregrad der Ischämie.

Vortest ermittelt Risiko

Während die Vortestwahrscheinlichkeit basierend auf Klinik, Alter und Geschlecht zur Beurteilung des Vorliegens einer koronaren Herzkrankheit unverändert von Relevanz ist, hat das Belastungs-EKG als nicht-invasiver KHK-Screeningtest den aktualisierten Leitlinien zufolge an Bedeutung verloren. Um überflüssige Diagnostik zu reduzieren, wurden außerdem die KHK-Wahrscheinlichkeit bei Frauen um etwa ein Drittel nach unten korrigiert und gleichzeitig Dyspnoe als relevantes KHK-Symptom aufgenommen. „Durch die Ermittlung einer Vortestwahrscheinlichkeit einer wirksamen KHK lassen sich die Patienten in niedrige, mittlere und hohe Risikogruppe einteilen“, so der Experte. Vor allem bei Personen mit unter 15 Prozent (niedriges Risiko) reiche Beobachtung zunächst aus. „Eine Koronarangiografie als invasive Technik kommt vor allem bei Patienten mit hohem Risiko in Frage und funktionelle Methoden wie SPECT oder Stress-Echokardiografie bei mittlerem Risiko. Eine CT-Angiografie ist für die primäre Diagnostik bei niedrigem Vortest-Ergebnis empfohlen“, sagt Aschauer.

Risikofaktoren kontrollieren

Bei etwa einem Drittel der KHK-Patienten liegt das akute Koronarsyndrom vor, so die Einschätzung von Univ. Prof. Andreas Zirlik von der Klinischen Abteilung für Kardiologie der Medizinischen Universität Graz. „Bei diesen Patienten gilt, weiterhin koronarangiografische Interventionen wie Katheter so rasch wie möglich gemäß dem Motto ‚time is muscle‘ zu setzen“. Anders hingegen sei die Vorgangsweise beim chronischen Koronarsyndrom. Hier hätte sich in Studien keinerlei Überlebensvorteil von Interventionen gegenüber der medizinischen Therapie gezeigt. Vielmehr müsse eine koronare Herzkrankheit als Ursache für eine Angina pectoris abgeklärt werden. „Liegt eine KHK vor, dann wird die medikamentöse Therapie in die Wege geleitet“, so Zirlik.

Chronisches Koronarsyndrom: Krankheitsbilder

a) Verdacht auf KHK mit Symptomen einer „stabilen“ Angina pectoris (mit/ohne Dyspnoe);

b) Verdacht auf KHK mit neu aufgetretenen Symptomen einer Herzinsuffizienz oder linksventrikulärer Dysfunktion;

c) Asymptomatische oder symptomatische Patienten mit stabilisierten Symptomen weniger als ein Jahr nach einer akuten Koronarstenose oder Revaskularisierung;

d) Asymptomatische oder symptomatische Patienten mehr als ein Jahr nach Erstdiagnose einer KHK oder Revaskularisierung;

e) Angina pectoris und Verdacht auf Vasospastik oder mikrovaskuläre Erkrankung;

f) Asymptomatische Patienten mit einer im Screening detektierten KHK.

Quelle: 2019 ESC Guidelines for the diagnosis and management of chronic coronary syndromes; Pocket-Leitlinie (PLL) „Chronisches Koronarsyndrom“

Kardiovaskuläre Risikofaktoren

  • Geschlecht: vor allem Männer betroffen
  • Positive Familienanamnese: koronare Herzerkrankung bei Familienangehörigen ersten Grades vor dem 55. (Männer) und 65. (Frauen) Lebensjahr
  • Rauchen
  • Diabetes mellitus
  • Hypercholesterinämie
  • Adipositas

Außerdem stellen die Reduktion von Alltagsstress und die damit verminderte Adrenalin- und Noradrenalinfreisetzung sowie die Kontrolle des Übergewichts und der allgemeinen kardiovaskulären Risikofaktoren zentrale Therapieempfehlungen dar. „Vor allem die Einstellung des Blutdrucks wirkt sich positiv auf somatische Ursachen der Patienten mit Angina pectoris ohne Koronarstenosen aus“, betont Aschauer. Die medikamentöse Behandlung erfolgt mit Kalziumantagonisten oder Betablockern – gegebenenfalls in Kombination mit Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems. Um die klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren zu behandeln, kommen Statine zum Einsatz. „Bei einer vasospastischen Komponente ist Diltiazem eine Option“, so die Experten. Die symptomatische Therapie umfasst weiters Ranolazin und Nitrate.

Je jünger der Patient, umso wichtiger sei es, das Risikoprofil wie etwa eine familiäre Hypercholesterinämie aufzuarbeiten, betont Zirlik. „Weder Herzkatheter noch eine antianginöse Therapie sollte bei dieser Patientengruppe im Vordergrund stehen.“ Vielmehr müsse geklärt werden, wodurch konkret die kardiovaskulären Beschwerden getriggert werden. „Wir müssen weg vom One-fits-all-Ansatz und individualisiert therapieren“, so Zirlik. Dafür gebe es nach Aussagen des Experten „spannende präklinische und klinische Ansätze“ wie etwa Colchicin, das diverse antiinflammatorische Effekte hat und bei bestimmten Patienten etwa mit familiärer Hypercholesterinämie eingesetzt wird.

„Studien haben den positiven Nutzen von Colchicin bei kardiovaskulären Erkrankungen bestätigt“, berichtet Zirlik. Dabei konnte bei 532 Patienten mit einer stabilen KHK gezeigt werden, dass Colchicin in einer Dosierung von 0,5 mg/Tag zusätzlich zur Sekundärprävention mit Statinen, ASS und/oder Clopidogrel das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse senkt. Ein akutes Koronarsyndrom, nicht-kardioembolische zerebrale Ischämien oder ein Herzstillstand traten bei nur bei 5,3 Prozent in der Colchicin-Gruppe und bei 16 Prozent in der Kontrollgruppe auf; in weiteren placebokontrollierten Studien mit mehr als 4.700 Patienten konnten die positiven Effekte bestätigt werden. Die Zulassung für einen weiteren „vielversprechenden“ (Zirlik) Ansatz in der lipidsenkenden Therapie hat die Europäische Arzneimittel-agentur EMA im Jahr 2020 für Leqvio erteilt. Der PCSK9-Hemmer greift direkt an der mRNA an, baut sie sequenz-spezifisch ab und verhindert so die Synthese des Proteins. (MCW)


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 /15.08.2023
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