Medizin & Wissenschaft
Diabetisches Fußsyndrom:
Druckentlastung entscheidend
Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung
Jedes Mikro-Trauma auf einem Fuß eines Patienten, der an Diabetes mellitus leidet, behindert den Abheilungsprozess. Neben der glykämischen Kontrolle und der feuchten Wundbehandlung steht deshalb die Druckentlastung durch Vollkontaktgips, Vakuumschienen und Verbandsschuhe im Fokus der Therapie.
von Martin Schiller
Rund 25 Prozent der Menschen mit Diabetes mellitus entwickeln ein diabetisches Fußsyndrom. Von grundlegender pathophysiologischer Bedeutung sind die diabetische Neuropathie und durch pAVK bedingte Durchblutungsstörungen. „Am schwerwiegendsten ist die Neuropathie“, sagt Univ. Prof. Thomas C. Wascher von der 1. Medizinische Abteilung am Hanusch-Krankenhaus Wien und erläutert: „Neuropathie-Patienten spüren ihre Füße nicht und merken daher auch nicht, wenn sie ein diabetisches Fußsyndrom entwickeln. Das kann sich zum Beispiel dahingehend äußern, dass beim Barfußgehen ein Fremdkörper eingetreten wird und ein Patient dies erst bemerkt, wenn eine daraus folgende Infektion einen beträchtlichen Teil des Fußes erfasst hat.“ Vielfach würden Ulzera auch unterschätzt: „Nicht selten kommt es vor, dass ein Patient die nässende Stelle am Fuß zwar bemerkt. Aber ohne das Warnsignal Schmerz misst er diesem Nässen nicht die nötige Bedeutung bei“, erklärt Wascher. Damit unterscheide sich der neuropathische diabetische Fuß in der Patientenwahrnehmung vom ischämischen diabetischen Fuß, wie Priv. Doz. Gerd Köhler vom Rehazentrum für Stoffwechselerkrankungen Aflenz ausführt. „Eine reine Durchblutungsstörung ohne Neuropathie erzeugt Beschwerden, die man als Alarmsignal wahrnimmt wie zum Beispiel die Schaufensterkrankheit.“ In der Praxis würden allerdings Mischformen überwiegen: „Mehr als die Hälfte der Patienten mit einem diabetischen Fußsyndrom leidet an einer Neuropathie und Durchblutungsstörungen. Bei Jüngeren steht die Neuropathie im Vordergrund, mit steigendem Alter kommen Durchblutungsstörungen hinzu.“ Bedenklich sei außerdem, dass es sich in Österreich bei zwei Drittel aller Menschen mit Amputationen um Menschen handelt, die an Diabetes mellitus leiden. Die Zahl der Amputationen ist in den vergangenen Jahren konstant geblieben.
Erhebung des Fußstatus
In den Guideslindes der IWGDF* (= International Working Group on the Diabetic Foot) wurden im Jahr 2019 fünf Schlüsselelemente für die Prävention von Fußulzera definiert:
- Identifikation von Risikofüßen
- Regelmäßige Kontrolle des Risikofußes
- Patientenschulung, Aufklärung der Angehörigen
- Routinemäßiges Tragen von geeignetem Schuhwerk
- Behandlung der Risikofaktoren eines Fußulcus
Wascher empfiehlt, zumindest einmal pro Jahr den Fußstatus von Patienten, die an Diabetes mellitus leiden, zu überprüfen. „Stellt man dabei fest, dass es sich um einen Risiko-Fuß handelt, sollte man das zum Anlass nehmen, die Kontrollfrequenz ab sofort zu erhöhen.“ Wird eine Neuropathie diagnostiziert, sollten die Füße zumindest alle sechs Monate kontrolliert werden; bei Fußformveränderungen monatlich.
Für das Neuropathie-Screening steht mit dem Stimmgabeltest eine einfache Methode zur Überprüfung des Vibrationsempfindens zur Verfügung. Das Druck- und Berührungsempfinden kann auch mit dem Mikrofilament getestet werden, wie Wascher berichtet: „Der dabei verwendete steife Nylonfaden knickt bei zehn Gramm Druck. Die entscheidende Frage zur Ermittlung einer Neuropathie ist, ob der Patient diesen Druck spürt oder nicht.“ Die Durchblutung kann mittels Doppler-Sonografie überprüft werden. „Kommt es dabei zu Auffälligkeiten, sollte der Patient sofort an einen Spezialisten weitervermittelt werden“, rät Wascher. Köhler nennt weitere wichtige Punkte bei der Begutachtung der Füße: „Trockene Haut, Hornhautbildung, ein prominenter Mittelfußbereich, eine Atrophie der Fußmuskeln, die sich in Form von Krallenzehen äußert, sind Anzeichen für ein hohes Ulzerationsrisiko. Die Kontrollfrequenz muss dann jedenfalls erhöht werden.“ Möglich seien auch Schwellungen an den Füßen oder Ameisenlaufen. Diese Symptome würden aber eher selten auftreten. Beide Experten betonen außerdem den Wert der Aufklärung und Patientenschulung (siehe Kasten). Warum? Der informierte Patient achtet verstärkt auf seine Füße und komme bei Auffälligkeiten frühzeitig zur Kontrolle, wissen die beiden Experten aus der Praxis.
Glykämische Kontrolle optimieren
Die Optimierung der glykämischen Kontrolle ist eine grundlegende therapeutische Maßnahme beim diabetischen Fußsyndrom. Bei jedem Patienten sollte laut Köhler ein individuelles Therapieziel definiert werden. „Das Ziel hängt vom Alter und von der Morbidität ab. Die Abheilung des Ulcus steht an erster Stelle“, was jedoch bei sehr alten Menschen oft schwer zu erreichen sei, wie der Experte gesteht. In solchen Fällen seien die Erhaltung der Mobilität, die Vermeidung von Infektion und das Abwenden einer Amputation die Therapieziele. Für die Abheilung stellt die Druckentlastung die wichtigste Maßnahme dar. „Jeder Schritt, mit dem eine Belastung auf das Ulcus kommt, ist ein Mikro-Trauma, das den Heilungsprozess verhindert“, sagt Wascher. Er berichtet aus der Praxis, dass immer mehr Patienten erstmals in die Ambulanz kommen, nachdem sie schon seit Monaten an einem chronischen Fuß-Ulcus leiden. Dieses weise in vielen Fällen zwar keine Infektion oder überschießende Hornhautbildung auf, heile aber ohne ausreichende Druckentlastung nicht ab. Laut Köhler ist ein Vollkontaktgips der Goldstandard: „Dieser führt zur vollständigen Druckentlastung, ist aber entsprechend aufwendig.“ Liegt keine Entzündung oder hochgradige Durchblutungsstörung vor, kommen Vakuumschienen zum Einsatz. Speziell angepasste Verbandsschuhe sorgen ebenfalls für Druckentlastung, während hingegen Vorfuß-Entlastungsschuhe heute „obsolet“ (Köhler) sind.
Für die Wundtherapie selbst ist die feuchte Wundbehandlung Mittel der Wahl, Fußbäder und lokale Antibiotika werden nicht mehr empfohlen. Köhler verweist auch darauf, dass stets die Hornhaut und Beläge entfernt werden sollten. „Aber das ist natürlich ein aufwendiger Prozess.“
Liegt eine pAVK vor, ist eine Revaskularisierung je nach Verschlussmorphologie anzustreben. Als wesentlich nennt Wascher außerdem alle Maßnahmen, die einer Atherosklerose entgegenwirken – „vor allem Rauchkarenz“. Und er verweist abschließend auf den Stellenwert der Zusammenarbeit der medizinischen Disziplinen: „Die Problematik des diabetisches Fuß-Ulcus ist nicht im Ein-Mann-Betrieb lösbar. Wir brauchen die Kooperation von Innerer Medizin, Diabetologie, Gefäßchirurgie und falls eine Nekrosektomie angezeigt ist Chirurgie.“
* International Working Group on the Diabetic Foot: Guidelines on the prevention and management of diabetic foot disease
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Patientenschulung: die wichtigsten Fragen
Bei der Aufklärung und Schulung des Patienten stehen folgende Fragen im Zentrum:
- Liegt eine Neuropathie vor? „Ist das der Fall, ist der Patient dazu angehalten, mindestens einmal pro Woche die Fußsohlen auf Auffälligkeiten zu untersuchen. Dafür kann bei fehlender Beweglichkeit auch ein Spiegel verwendet werden“, sagt Wascher. Köhler empfiehlt, auch die Angehörigen des Patienten einzubinden, da sie „eine wertvolle Unterstützung bei der Kontrolle der Füße leisten können“.
- Werden Verletzungen in der Nagelgegend gespürt oder nicht?
- Wird regelmäßige professionelle Fußpflege in Anspruch genommen? „Bei einer Neuropathie sollte das Kürzen der Nägel und die Entfernung der Hornhaut in einem professionellen Setting durchgeführt werden. Ein Patient mit Sensibilitätsstörungen ist gefährdet, sich bei diesen Tätigkeiten Verletzungen zuzufügen“, so Köhler.
- Ist das Schuhwerk zu eng? „Viele Patienten mit einer diabetischen Neuropathie tendieren zum Kauf von engen Schuhen in der Hoffnung, besser gehen zu können und mehr Gefühl zu haben. Sie benötigen aber weiches, breites Schuhwerk mit Weichbettfußeinlagen“, erklärt Köhler.
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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 /25.03.2023
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