Medizin & Wissenschaft

AIDS: Vorzeitige Alterung

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Bei nahezu jedem zweiten HIV-Infizierten in Österreich wird die Diagnose erst in einem fortgeschrittenen Stadium gestellt. Im Gegensatz zu früher werden Betroffene aufgrund der zahlreichen therapeutischen Möglichkeiten älter – allerdings altern sie auch vorzeitig aufgrund der Schäden, die das Virus vor allem vor Beginn der Therapie verursacht.

 

von Martin Schiller

Knapp 42,5 Prozent der von HIV betroffenen Personen in Österreich erfahren erst in einem fortgeschrittenen Stadium von ihrer Infektion. Die späte Diagnose betrifft vor allem Menschen über 50 Jahre und nicht aus Österreich stammende Personen. „Definiert ist ‚spät‘, wenn bereits eine relevante Immunschwäche zum Zeitpunkt der Diagnose entstanden ist“, erklärt Univ. Prof. Alexander Zoufaly von der 4. Medizinischen Abteilung der Klinik Favoriten in Wien im Vorfeld des Welt-AIDS-Tages am 1. Dezember. Das Motto in diesem Jahr lautet: „End inequalities. End AIDS. End Pandemics.“ Erstmals hat die WHO diesen Tag 1988 ausgerufen.

Eine relevante Immunschwäche wird anhand der CD4-Zellen der spezifischen Immunabwehr gemessen. „Hier liegt der Schwellenwert bei 350“, erklärt Zoufaly. Wird dieser Wert unterschritten, sei das ein typisches Zeichen für eine HIV-Infektion, da ein immunologisch gesunder Mensch „praktisch nie“ in diesem Bereich liege. Das zweite Merkmal sei das Auftreten von opportunistischen Erkrankungen, die bei gesunden Menschen praktisch nicht vorkommen. Sind keinerlei Anzeichen für eine Immunschwäche vorhanden, ist die Diagnose rechtzeitig erfolgt.

Zoufaly – er ist aktuell Präsident der Österreichischen AIDS-Gesellschaft – macht in diesem Zusammenhang auf Indikator-Erkrankungen aufmerksam, bei denen es wahrscheinlicher als in der Allgemeinbevölkerung ist, dass eine HIV-Infektion vorliegt: „Das betrifft unter anderem die Diagnose einer Hepatitis B oder Hepatitis C, alle sexuell übertragbaren Infektionen, die seborrhoische Dermatitis, Gürtelrose, ein Mononukleoseähnliches Krankheitsbild sowie andauernde Leuko und Thrombozytopenie. Beim Vorliegen solcher Indikatorerkrankungen sollte ein HIV-Test angeboten werden.“

Zoufaly sagt aber auch, dass ein HIV-Test jedem Patienten, der danach fragt, empfohlen werden sollte. „Die Nachfrage kann bereits darauf hindeuten, dass ein Risikokontakt zugrunde liegt.“ Unabhängig davon gebe es Personen mit erhöhtem Ansteckungsrisiko, denen man zumindest einmal pro Jahr einen HIV-Test aktiv anbieten sollte. Dazu zählen Männer, die Sex mit Männern haben (besonders bei wechselnden Sexualpartnern) und Personen, die in den vorangegangenen Monaten eine sexuell übertragbare Infektion hatten.

Mehr Komorbiditäten im Alter

Speziell die frühe Diagnose ermögliche HIV-Patienten dank der heute etablierten Therapien eine hohe Lebensqualität und die gleiche Lebenserwartung wie in der Allgemeinbevölkerung, führt der Experte aus. „Durch diese erfolgreichen Therapien steigt das Durchschnittsalter der HIV-Infizierten. Damit sind wir aber bei dieser Personengruppe nun mit Krankheiten verstärkt befasst, die auch bei nicht Infizierten mit steigendem Alter vermehrt auftreten“, sagt Zoufaly. Er spricht aber einen wesentlichen Unterschied an: „Trotz erfolgreicher Therapie altern HIV-positive Menschen vorzeitig. Die Zahl der Komorbiditäten ist höher als jene bei gleichaltrigen älteren Menschen, weil das Virus bereits vor Einsetzen der Behandlung Schäden angerichtet hat und eine chronische Entzündung auslöst, die mit verschiedenen Risiken einhergeht.“ Umso wichtiger sei es deshalb, regelmäßig den Fokus auf Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Fettstoffwechselstörungen zu legen. „Man muss aber auch auf dem Radar haben, dass diese Erkrankungen bei jüngeren HIV-Infizierten vermehrt auftreten können“, ergänzt Zoufaly.

HIV weltweit stoppen

Experten gehen davon aus, dann man die weltweite Verbreitung von HIV beenden könnte, wenn sich alle HIV-Positiven behandeln ließen und alle Menschen, die sich wegen hohen Ansteckungsrisikos schützen wollen, eine Präexpositionsprophylaxe (PrEP) in Anspruch nehmen würden. „Aus manchen Ländern gibt es bereits Daten, die zeigen, dass die Zahl der Neuansteckungen deutlich zurückging, nachdem man die Präexpositionsprophylaxe eingeführt hat“, berichtet Zoufaly und sieht für die Situation in Österreich noch Optimierungsbedarf. „Schätzungen zu Folge nehmen 1.000 bis 2.000 Menschen in Österreich eine Präexpositionsprophylaxe ein. Aber 9.000 bis 14.000 Personen könnten davon profitieren.“ Mit einer Präexpositionsprophylaxe kann sich ein HIV-negativer Mensch vollständig schützen, zeigt sich der Experte überzeugt und auch davon, dass die Prophylaxe noch von deutlich mehr Menschen durchgeführt werden müsste. Einen Hebel dafür sieht er in der Erstattung der Präexpositionsprophylaxe durch die Krankenkassen, wie dies in zahlreichen europäischen Ländern schon der Fall sei. „Es sollte dabei nicht nur das Medikament erstattet werden, sondern auch die entsprechenden Untersuchungen.“

Zahlen und Fakten zu HIV

  • In Österreich gibt es rund 9.000 HIV-infizierte Menschen.
  • Schätzungsweise wissen knapp zehn Prozent der Betroffenen hierzulande nicht über ihre Infektion Bescheid und werden nicht behandelt.
  • Im Jahr 2021 gab es in Österreich 376 Neudiagnosen, was einen leichten Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (332 Neudiagnosen) bedeutet. Insgesamt wird in den vergangenen zwölf Jahren eine rückläufige Tendenz verzeichnet.
  • Im Jahr 2020 wurde in der EU/im EWR bei rund 100.000 Personen erstmals HIV diagnostiziert.
  • UNAIDS, ein Programm der Vereinten Nationen, hat sich „95–95–95“ zum Ziel gesetzt: 95 Prozent der Menschen, die mit HIV leben, sollen ihren Status kennen, 95 Prozent davon eine angemessene Therapie erhalten und 95 Prozent von ihnen keine Viruslast mehr aufweisen. Bis 2030 soll es demnach AIDS nicht mehr geben.

 


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22/2022
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