Medizin & Wissenschaft

Gewalt gegen Kinder: Risikobehaftete Entwicklungsphasen

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Neben physischer, psychischer und sexueller Gewalt ist Vernachlässigung eine weit verbreitete, mitunter auch folgenschwere Form der Kindesmisshandlung. Die Entwicklungsphasen von Kindern sind besonders risikobehaftet. Essstörungen, sozialer Rückzug, inadäquate Distanzlosigkeit und speziell Selbstverletzungen sind Anzeichen für Gewalterfahrung.

von Julia Fleiß

„Kinder, die in gewaltbehafteten Partnerschaften aufwachsen, haben ein hohes Risiko, selbst auch Opfer von Gewalt zu werden“, sagt Klaus Kapelari von der Kinderschutzgruppe der Universitätsklinik Innsbruck. Er ist überzeugt, dass „schon die reine Zeugenschaft von Gewalt zwischen Eltern für Kinder schwerwiegende Folgen hat“. Obwohl Gewalt in der Erziehung seit 1989 in Österreich gesetzlich verboten ist, ist aus den Betreuungszahlen von Kinderschutzzentren und Untersuchungen ersichtlich, dass sie dennoch teilweise immer noch an der Tagesordnung steht. In einer Befragung zu Einstellung und Bewusstsein zu Gewalt an Kindern in der österreichischen Bevölkerung im Jahr 2020 des Kinderschutzzentrums „Möwe“ hielt die Hälfte der Befragten (1.000 Personen repräsentativ für die österreichische Bevölkerung über 14 Jahre) eine gewaltfreie Erziehung für die ideale Erziehungsform. Dazu kommt, dass psychische Misshandlung wie Drohungen oder Liebesentzug nur von rund 70 Prozent überhaupt mit Gewalt assoziiert wurden.

Gewalt tritt in verschiedenen Formen auf: physisch und psychisch, sexueller Missbrauch und Vernachlässigung, wobei diese Formen häufig kombiniert vorkommen. Gewalt ist auch passiv möglich. „Vernachlässigung ist eine weit verbreitete, folgenschwere Form der Kindesmisshandlung“, sagt Kapelari. So kann auch gleichgültiges Verhalten der Eltern Hinweis auf Misshandlung sein. Inadäquate Kleidung, mangelnde Hygiene oder motorische Entwicklungsretardierung beim Kleinkind können darauf hindeuten, dass das Kind nicht gefördert oder ausreichend versorgt wird. „Sowohl Dystrophie als auch Adipositas können auf Vernachlässigung hindeuten“, meint Kapelari. Jedoch: „Nicht jedes adipöse Kind wird vernachlässigt oder anders misshandelt! Es ist immer eine Gratwanderung zwischen Über- und Unterdiagnose. Beides hat potentiell schwerwiegende Folgen für eine Familie.“

Die Prävalenz von Gewalt gegen Kinder ist laut Kapelari schwierig zu beziffern: „Valide Zahlen im Kinderschutz, wie viele von Gewalt betroffen sind, gibt es nicht, da die Dunkelziffer extrem hoch ist.“ Den Angaben von UNICEF zufolge erfahren sechs von zehn Kindern zwischen zwei und 14 Jahren – rund eine Milliarde Kinder – weltweit regelmäßig körperliche Strafen. Der Appell von Kapelari an alle, die beruflich oder im privaten Umfeld mit Kindern zu tun haben, ist: „Genau hinsehen!“ Auch wenn Kindesmisshandlung in allen Bevölkerungsschichten vorkommt und meistens im Verborgenen passiert, gebe es Risikofaktoren und Hinweise.

Hinweise erkennen  

„Es gibt keine eindeutigen Verhaltensmuster, aber es gibt Auffälligkeiten, die ein Arzt, Lehrer oder eine andere Bezugsperson hinterfragen sollte“, erklärt Michael Merl von der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Keplerklinikum Linz. „Die ‚frozen watchfulness‘, also die Schreckhaftigkeit, wenn Kinder ihre Umwelt ohne emotionale Beteiligung beobachten, oder aggressives Verhalten sowie somatische Beschwerden, die keinen Befund ergeben, können Hinweise auf Gewalterfahrungen sein.“ Außerdem machen Eltern, die selbst für Verletzungen ihres Kindes verantwortlich sind, häufig widersprüchliche Angaben; diese stimmen oft auch nicht mit dem Verletzungsmuster überein. Typische Körperstellen, die auf Misshandlungen deuten, sind laut Merl die Rückseiten der Oberschenkel: „Da verletzt man sich akzidentell nicht so einfach.“ Unfallbedingte Hämatome sind bei prämobilen Säuglingen grundsätzlich eine Rarität. Hautsymptome zeigen sich bei 90 Prozent aller Opfer von körperlicher Gewalt. Bei thermischen Verletzungen sind rund zehn Prozent nicht akzidentell. Charakteristisch dafür: scharfe Grenzen der Verbrühungen.

Entwicklungsphasen als Risiko

Die häufigste Todesursache bei Kindesmisshandlungen ist das Schütteltrauma. „Das höchste Risiko dafür besteht in den ersten sechs Lebensmonaten“, berichtet Kapelari. Bei der Untersuchung sollte jedenfalls auch die Frage gestellt werden: „Schläft ihr Kind durch?“ In der US-amerikanischen Publikation „Seven deadly sins of childhood: Avising parents about difficult developmental phases“ von Barton D. Schmitt aus dem Jahr 1987 werden die sieben „gefährlichsten“ Entwicklungsschritte eines Kindes beschrieben, die zu gewalttätigen Erziehungsmaßnahmen führen können. Kapelari zeigt sich überzeugt davon, dass diese Einteilung auch heute noch Gültigkeit hat. Diese Entwicklungsschritte sind Schreiphasen, Widerstand gegen Toilettentraining, nächtliches Erwachen, Trennungsängste, Neugier, Trotzphase und Appetitlosigkeit. Diese Phasen kämen bei allen Kindern vor und „stellen ein Risiko dar, Eltern in eine Überforderungssituation zu bringen“, warnt Kapelari. Und er gibt zu bedenken: „Schreien ist die einzige Ausdrucksmöglichkeit, die ein Kind anfangs hat“.

„Gewalt kann zwar unbewusst ausgeübt werden, aber sie passiert nie zufällig“, stellt Kapelari klar. Während die körperliche Form der Gewalt aufgrund von sichtbaren Verletzungen am ehesten auffällt, sind die Folgen von psychischer Misshandlung manchmal erst nach Monaten oder Jahren sichtbar – oft als „schwerste Entwicklungsstörungen“, wie der Experte betont. Auch sexualisierte Gewalt hinterlässt Schäden, mit deren Verarbeitung die Betroffenen nicht selten ihr Leben lang beschäftigt sind. Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch ist der behutsame Umgang mit den Betroffenen besonders wichtig. Um Sekundärtraumatisierungen zu vermeiden, sollten notwendige Untersuchungen nur durch dafür spezialisierte Ärztinnen und Ärzte erfolgen, mahnt Kapelari. Und es müsse behutsam geschehen, auch wenn es aus Beweisgründen möglichst zeitnah passieren soll, beschreibt er das Dilemma.

Die Auswirkungen von Gewalt auf Kinder sind vielfältig. „Essstörungen sind oft Ausdruck einer Traumatisierung, ebenso sozialer Rückzug, ein plötzlicher Einbruch bei den schulischen Leistungen oder inadäquate Distanzlosigkeit. Jede plötzliche und unerwartete Verhaltensänderung stellt einen Grund dafür dar, hellhörig zu werden.“ Besonders selbstverletzendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen sei ein Anzeichen für Gewalterfahrung, mahnt Merl. „Kinder neigen dazu, sich selbst die Schuld zu geben. Weil sie oft in ihrer Persönlichkeit noch keine anderen Instanzen haben, reagieren sie mit selbstverletzendem Verhalten und selbstvernichtenden Ideen.“

Häufige Arztwechsel

„Typisch für Eltern, die ihr Kind misshandeln, sind häufige Arztwechsel. Wenn sie merken, dass der Arzt einen Verdacht hegt, werden sie eventuell nicht wieder in die gleiche Ordination kommen“, so Merl. Und Kapelari rät: „Nur durch eine gute Dokumentation von Auffälligkeiten kann man einen roten Faden erkennen und die einzelnen Puzzlestücke zusammensetzen.“ Spricht man als Arzt einen Verdacht auf Misshandlung an, empfiehlt es sich, immer einen Kollegen oder einen Verbündeten aus dem Familiensystem einzubeziehen. Kapelari weiter: „Bei Gewalt gibt es immer eine Wiederholungstendenz und ein Eskalationsrisiko, weshalb man zügig eingreifen sollte.“ Ansprechen, melden und die richtigen Experten für die jeweilige Situation kontaktieren – so lautet sein Ratschlag.

Angehörige des Gesundheitsberufes sind bei einem begründeten Verdacht auf Kindesmisshandlung zu einer schriftlichen Meldung an die Kinder- und Jugendhilfe verpflichtet. „Die Vorgehensweise richtet sich nach der Bereitschaft zur Kooperation des Gegenübers“, erzählt Kapelari aus der Praxis. „Die schönen Erlebnisse sind die, wenn es eine Einsicht gibt und man es mit einem Helfersystem und Therapie schafft, den Kindern das Wertvollste zu erhalten: ihre Familie und das Vertrauen zu den Eltern.“ Das ist laut den Experten die bestmögliche Prognose für Opfer von Gewalt. Noch besser: Prävention. Aus zahlreichen Studien geht hervor, dass die Behandlung der Folgen von Misshandlung weit weniger effektiv ist als eine primäre Prävention.

18 Jhd.

Mit der Aufklärung rückte der Schutz von Kindern vor körperlicher und psychischer Gewalt und Vernachlässigung ins öffentliche Interesse.

19 Jhd.

Beginn der Kinderschutzbewegung

1919

Kinderrechte werden in der Weimarer Verfassung niedergeschrieben.

1924

Die „Children’s Charta“ wird im Völkerbund verabschiedet.


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1–2 /25.01.2023
Unsplash #lMLG68e4wYk Urheber: Jessica Rockowitz


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