Medizin & Wissenschaft

Schmerzassessment bei kognitiven Störungen: Versuchsweise Orientierung

Lesezeit: 4 Minuten Quelle: Österreichische Ärztezeitung

Der überwiegende Teil der älteren Menschen leidet an nozizeptiven muskuloskelettalen Schmerzen. Leiden sie darüber hinaus an einer kognitiven Beeinträchtigung, gibt es keine Sicherheit dafür, dass die Schmerztherapie auch tatsächlich erfolgreich ist. Die Behandlung beruht auf versuchsweiser Orientierung.

von Julia Fleiß

 

Bei über 65-Jährigen liegt die Schmerzprävalenz zwischen 50 und 86 Prozent; auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung sind davon betroffen. Untersuchungen zufolge leiden 45,8 Prozent der Patienten mit Alzheimer-Demenz an Schmerzen; 56,4 Prozent der Menschen mit vaskulärer Demenz und 53,9 Prozent derjenigen, die an gemischter Demenz leiden. „Die Mehrzahl der alten Menschen leidet an nozizeptiven muskuloskelettalen Schmerzen“, erklärt Univ. Prof. Burkhard Gustorff von der Abteilung für Anästhesie, Intensiv und Schmerzmedizin an der Klinik Ottakring in Wien. Dabei handelt es sich um Schmerzen durch Muskelverkürzungen und Fehlhaltungen, arthrosebedingte sowie auch Schmerzen der Knochenhaut, die durch osteoporotische Veränderungen entstehen. Dass Schmerzen bei älteren Menschen generell „eher“ (Gustorff) unterbehandelt bleiben, liegt unter anderem im Underreporting: Ältere Menschen nehmen Schmerzen als unabwendbare Begleiterscheinung des Alterns hin und thematisieren sie daher seltener. Außerdem haben viele Sorge davor, in einer stationären Einrichtung untergebracht zu werden. Dazu kommt, dass die verbale Ausdrucksfähigkeit von älteren Menschen eingeschränkt sein kann – etwa nach einem Insult oder aufgrund einer höhergradigen kognitiven Beeinträchtigung.

Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch die Zahl derjenigen mit einer dementiellen Erkrankung: So leiden bis zu 15 Prozent der über 65-Jährigen an Demenz. Jeder zweite von den über 85-Jährigen hat M. Alzheimer, davon 28 Prozent schwer. Damit eine schmerztherapeutische Unterversorgung von kognitiv oder kommunikativ beeinträchtigten Patienten vermieden werden kann, muss die standardisierte Erfassung des Schmerzes und der Therapie integraler Bestandteil der Behandlung sein. „Je weiter fortgeschritten die Demenz ist, umso kürzer sollten die Beurteilungsintervalle sein“, fasst Wolfgang Halder von der Abteilung für Innere Medizin und Akutgeriatrie am Landeskrankenhaus Hochzirl – Natters zusammen.

Selbstauskunft der Patienten

Bei der Schmerzerfassung kommen in erster Linie Instrumente zum Einsatz, die auf der Selbstauskunft der Patienten beruhen wie zum Beispiel verbale Rating-Skalen (VRS), numerische Rating-Skalen (NRS) und visuelle Ratingskalen. „Bei geringgradiger Demenz ist ein verbaler Austausch immer noch möglich. Hier ist der Zugang eine einfache, auf die Gegenwart bezogene Befragung“, sagt Gustorff. Auch eine ruhige, langsame und deutliche Sprache wirkt sich laut dem Experten positiv auf das Befragungsergebnis aus.

Bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz muss der Beobachter Signale der nonverbalen Kommunikation beobachten und einschätzen wie etwa lautsprachliche Äußerungen, mimische Hinweise wie Grimassieren oder Stirnrunzeln, Verhaltensindikatoren wie Verhaltensänderungen, Appetitverlust oder aber auch physische Indikatoren wie Tachykardien oder ein veränderter Atemrhythmus. Zurzeit wird die Verwendung eines strukturierten Fragebogens – BESD (Beurteilung von Schmerz bei Demenz) – empfohlen. Die Fremdeinschätzung unterliege laut wissenschaftlicher Untersuchungen jedoch großen Fehleinschätzungen. „Am besten gelingt diese Schmerzbeurteilung in Langzeiteinrichtungen, wenn Ärzte und Betreuer die Patienten gut kennen“, weiß Halder.

Chronischer Schmerz

Schmerzen bei älteren Menschen sind meist chronisch, durch klinische Diagnosen belegt und daher eindeutig behandelbar. „Wir sprechen von chronischem Schmerz, wenn er mindestens sechs Monate auftritt“, erklärt Halder. Die Herausforderung dabei ist es, eine Verschlechterung der bestehenden Symptomatik von einem neu aufgetretenen Problem zu differenzieren. Akuter Schmerz kann „sichtbar sein“: als Hämatom oder Schwellung. Bei „unsichtbaren“ Schmerzursachen wie zum Beispiel entzündlichen Prozessen von inneren Organen jedoch gelte es laut Halder, Vermeidungsverhalten oder schmerzbedingte Schonhaltungen zu erkennen.

„Die Vorgangsweise ist, auch die Gegenregion zur schmerzhaft Vermuteten zu untersuchen. Nur so erhält man einen Reaktionsvergleich“, ergänzt Gustorff und rät, immer auch einen der Region zuordenbaren Nervenschmerz in Betracht zu ziehen. Halder wiederum gibt zu denken: „Die Schwierigkeit bei dementen Personen ist, dass sie auch unabhängig von Schmerz Verhaltensauffälligkeiten wie Abwehrhandlungen bei Pflegemaßnahmen oder motorische Unruhe aufweisen können.“ Dem Betreuungspersonal und auch Angehörigen kommt daher eine wichtige Rolle zu. So können etwa vor allem nachts auftretende Schmerzen, wenn der Betreffende nicht schlafen kann und wimmert, auf Schmerzen hindeuten. Absolute Sicherheit wie bei kognitiv gesunden Menschen gebe es laut den beiden Experten nicht: Die Behandlung beruhe auf versuchsweiser Orientierung.

„Bei älteren Personen sind nicht steroidale Antirheumatika aufgrund der potentiellen Nierenschädigung und bei Herz-/Kreislauf-Erkrankungen kontraindiziert. Daher bleiben Paracetamol mit relativ geringer Wirkung, weil es zu 50 Prozent bereits im First-Pass-Effekt absorbiert wird, und als zweite Wahl Metamizol“, so Gustorff. Der Vorteil dieser Präparate liege darin, dass sie keine kognitive Einschränkung bewirken.

„Unter Berücksichtigung von Einnahmemodalitäten und Nebenwirkungsrisiken werden in vielen Fällen Morphine eingesetzt“, berichtet Halder und zwar unter dem Motto „Start low – go slow.“ Gustorff wiederum rät, Opioide bei mobilen kognitiv beeinträchtigten Patienten zurückhaltend einzusetzen, da sie „zentralnervös dämpfend wirken, was das Sturzrisiko erhöht.“ Im Zweifelsfall sollte man auf Präparate zurückgreifen, die schon verordnet und auch vertragen wurden. Gustorff dazu: „Das genetische Konzept, welches Präparat wie wirkt, ändert sich nicht.“

 

 


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© Österreichische Ärztezeitung Nr. 22/2022
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